Zum 30. Todestag von Heinrich Böll
Zum Todestag von Heinrich Böll
möchte auch ich an ihn erinnern; daran, dass Heinrich Böll mich lehrte, was Details in der Literatur bedeuten (“Blut im Urin” aus “Haus ohne Hüter”, die Großmutter, die auf der Balustrade mit ihrem Uringefäß winkt: unvergessen) und dass eine Literatur mit moralischem Impetus entgegen der Lehren der Germanistik, die zu meiner Zeit nur Verachtung für den “Gutmenschen” übrig hatte, es vermag, Menschen zum Denken zu bringen – und zum Mitgefühl. Zur Menschwerdung des Menschen beitragen, wie er selbst es nannte.
Heinrich Böll fehlt.
Oder: eine/r wie er fehlt. Heute ganz besonders. Er hatte nicht nur ein Gespür für die schwierigen Verhältnisse von Vätern und Söhnen, z.B. in “Billard um halbzehn” oder für die Probleme mit dem Glauben wie in “Ansichten eines Clowns” vermittelt – und damit hat er die aktuelle Tendenz des massenweisen Kirchenaustritts vorweggenommen, sondern auch immer die Folgen des Krieges beschrieben. In jedem seiner Romane. Und damit mir und meiner Generation ein Verständnis für die Eltern- und Großelterngeneration eröffnet. Ohne dass er den moralischen Zeigefinger erhob oder um Verständnis warb, das nämlich wäre ein Missverständnis der Rezeption. Unversöhnlich war er dennoch, aber versöhnen wollte er – gemeinsam mit Alexander Solschesnizin, den er als “Flüchtling” in seinem Haus aufnahm, was damals noch keine Selbstverständlichkeit war.
Dieter Lamping würdigt ihn in einem Artikel in literaturkritik.de – und wir möchten ihn hier zitieren. Denn er beschreibt, wie das “Material” (des Lebens in seine Romane wirkte:
Immer wieder hat er betont, dass auch die Wirklichkeit für ihn „Material“ gewesen sei – weshalb er sich auch dagegen verwahrte, als christlicher Schriftsteller bezeichnet zu werden. An erster Stelle wollte er ein Autor sein, der sich als Künstler zu bewähren hat. Mit der Rede vom Material versuchte er das Eigenrecht der Literatur zu behaupten – wovon sie auch handeln mag. Böll war zweifellos ein Realist, aber diesen Begriff darf man in seinem Fall nicht zu eng auslegen. Sein Realismus ist immer eine Annäherung gewesen: eine Annäherung von verschiedenen Seiten an die Wirklichkeit von Menschen, die er in literarische Figuren verwandelte.
Auch ihnen näherte er sich wesentlich über die Sprache: über ihre Sprache. Nicht nur in seinen letzten Romanen, in ihnen allerdings besonders, ließ Böll seine Figuren selbst reden – was zu vielen Mißverständnissen geführt hat. Sie alle sind in einem starken Sinn ‚Gruppenbilder‘, Gesellschaftsbilder, die sich aus Worten und Wörtern, aus Sprache also zusammensetzen. Die Sprache seiner Romane ist, nicht nur als die seiner Figuren, nahe an der gesprochenen des Alltags. Unter anderem deshalb waren seine Bücher immer auch für ein größeres Publikum lesbar, und das entsprach seinem Verständnis von Literatur: Sie sollte grundsätzlich für alle da sein.
Böll hat gern von seinem Projekt der „Fortschreibung“ gesprochen. Er hat für sich nicht in Anspruch genommen, ein für allemal die richtige Form für seine Erzählungen und zumal seine Romane gefunden zu haben. Sie unterscheiden sich, bis zum Schluss, mehr oder weniger deutlich voneinander. Noch sein letzter „Roman in Dialogen und Selbstgesprächen“ Frauen vor Flußlandschaft stellt in seinem Œuvre etwas vollkommen Neues dar. Der Erzähler Böll prüfte Formen, indem er sie unermüdlich fortschreitend ausprobierte. Sein literarisches Werk war ein work in progress. Auch das haben viele seiner Kritiker nicht verstanden.
Es ist oft bemerkt worden, dass es das alles abschließende, weil alles in sich einschließende Werk Bölls nicht gibt. Auch der Roman, für den er den Nobelpreis erhielt, Gruppenbild mit Dame, ist das nicht ganz, wenngleich er sicher sein komplexester ist: von der Vielzahl der Figuren, der Vielfalt der Stimmen, der fast ein halbes Jahrhundert umfassenden Handlung, schließlich der montageartigen, den ästhetischen Konstruktionscharakter betonenden Erzählweise her. Für Bölls Romane mag insgesamt gelten, was er über Thomas Wolfe schrieb: „Kein Werk“ von ihm „ist perfekt, aber sie sind alle vollkommen, vollkommen“ (ERuS, 1, 81) – Heinrich Böll. Böll selbst zeigte sich ebenso so souverän wie bescheiden im Umgang mit den Unvollkommenheiten seiner Arbeiten: Er akzeptierte sie. Auch auf dem Gipfel des Ruhms glaubte er nicht, dass er von Fehlern frei sei.
Gleichwohl gehörte er zu den seltener gewordenen Autoren, die an die Literatur glauben – an ihren Ernst, ihren Erkenntnis- und Wahrheitsanspruch, ihre Humanität. Literatur, so schrieb Böll 1965, fast beiläufig, werde gemacht, um „zur Menschwerdung der Menschen beizutragen“ (ESUR, 2, 161). Der wichtigste Satz seiner Poetik, ihr Hauptsatz, findet sich in seiner „Die Freiheit der Kunst“ überschriebenen dritten Wuppertaler Rede. Kunst, heißt es da, sei „die einzig erkennbare Erscheinungsform der Freiheit auf dieser Erde“ (ESuR 2, 228). Frei sei die Kunst „von Natur“. „Gegebene Freiheit ist für sie keine, nur die, die sie hat, ist oder sich nimmt“. „Wie weit sie gehen darf oder hätte gehen dürfen, kann ihr ohnehin niemand sagen; sie muß also zu weit gehen, um herauszufinden, wie weit sie gehen darf“ (ebd.).
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