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Zwiebelkuchen

Gewinnertext von Marita Brenken – Zwiebelkuchen und die Suche nach dem Glück

Zwiebelkuchen und die Suche nach dem Glück – Text Nr. 3 zum Food-Writing

Herzlichen Glückwunsch an Marita Brenken! Die Autorin lebt in Berlin und hat sogar schon eine Anthologie mit Kurzgeschichten veröffentlicht, die direkt zu unserem Thema passt: Vom Essen und Lieben

 

Zwiebelkuchen und die Suche nach dem Glück

 

Die Tränen laufen ihr über die Wangen. Sie streckt die Arme ganz nach vorne, um so weit wie möglich von den Zwiebeln entfernt zu sein. Sie weiß, dass ihr der schweflige Stoff Isoalliin das Wasser in die Augen treibt. Ein Stoff, der die Pflanze vor Fressfeinden schützen soll, wie Ratten und Mäuse, aber keine Chance hat gegen den Menschen, seinen Hunger und seine scharfen Küchenmesser. Sie wischt sich mit dem Ärmel ihrer Bluse übers Gesicht, um besser sehen zu können. Im Fernsehen sucht Horst Lichter das Glück auf seinem Motorrad zusammen mit Hardy Krüger junior. Sie hätte auch gerne mal wieder ein wenig Glück. Besonders heute am Heiligen Abend. Sie hat schon lange nicht mehr vor Glück geweint, sie kann sich kaum mehr an das Gefühl erinnern, das irgendwo in der Körpermitte seinen Ursprung hat, und dann durch den Brustkorb hinaufschwappt, wie eine große schäumende Welle und sich aus den Augen heraus ergießt. Jetzt gerade wäre so ein Gefühlsausbruch allerdings sehr störend. Sie muss Herz und Hand unter Kontrolle halten, um die Zwiebeln in zarte dünne Ringe zu schneiden.

Ein Arme-Leute-Essen

Sie kennt das Rezept auswendig, hat es oft mit ihrer Mutter zusammen gekocht, ein Arme-Leute-Essen. Arm, das war ihre Familie gewesen, ihr Vater, Bergmann auf Prosper Haniel, war sein Leben lang eingefahren, bis die Lunge versagte. Der Vater von Horst Lichter hatte es besser, Braunkohle, Tagebau bei Beuel. Aber man soll ja nicht klagen. Sie schmilzt Butter in der großen Pfanne, füllt die Zwiebeln hinein und rührt mit dem Holzlöffel um. Ganz langsam, bei geringer Hitze lässt sie das harte Gemüse garen, schaut zu, wie die kräftigen Ringe nachgeben, biegsam und geschmeidig werden, wie ihr dichtes Weiß glasig und durchsichtig wird. Sie schaltet die Hitze auf die kleinste Stufe und schaut Herrn Lichter zu, wie er mit Hardy durch die Verdonschlucht rast und dabei zum Besten gibt, dass zu zweit fahren doch viel schöner ist als alleine, und dass er mit Hardy doch viel gemeinsam hat, ein totes Kind zum Beispiel.

Die Zwiebeln sind gar

Sie schüttelt den Kopf. Alles ist zu zweit schöner. Sie hätte heute Abend auch gerne ihren Sohn bei sich, aber der stellt sich tot, schon ein halbes Jahr, das ist fast schlimmer, als wenn er wirklich tot wäre. Ihre Augen werden feucht, und diesmal sind es nicht die Zwiebeln. Sie atmet tief ein und ein süßer Duft steigt ihr in die Nase, die Zwiebeln sind gar. Sie streut noch etwas Zucker darüber und lässt die weichen Zwiebelringe zart karamellisieren. Anschließend kühlen sie in einer breiten Schüssel langsam aus. Sie hält eine hauchdünne Scheibe geräucherten Speck gegen das Licht, fast kann sie hindurchschauen, und fährt vorsichtig mit der Zunge über das fettige Bauchfleisch, schmeckt den Rauch, in dem es hing, und sofort läuft ihr der Speichel in die Mundhöhle. Sie muss schlucken und lachen zugleich und lässt die Speckstreifen in die Pfanne gleiten, leckt ihre Finger ab, die fettig glänzen und schmierig schmecken. Schnell bildet der Speck einen öligen Film auf dem Pfannenboden und der würzige Geruch von Rauch und Fleisch hängt im Raum. Die Streifen krümmen sich in der Hitze und landen auf den gedünsteten Zwiebeln. Schnell gibt sie das rosige Hackfleisch in die noch heiße Pfanne, würzt kräftig und entschlossen mit Pfeffer, Salz und Chili und öffnet das Fenster einen Spalt, damit der Dunst abziehen kann. Horst Lichter fährt gerade an der glitzernden Côte d’Azur entlang und fragt sich, ob die Menschen da auch glücklich sind, unterlegt von romantischer Geigenmusik. Sie summt leise mit und versucht ein paar zaghafte Tanzschritte, hebt die Arme, als würde sie die Schultern eines starken Tanzpartners berühren.

Glücklich wäre sie gerne mal wieder

Glücklich, ja, glücklich wäre sie gerne mal wieder, in den Armen eines Mannes oder an der Seite ihres Sohnes. Wenn sie nur wüsste, wie es ihm geht und wo er sich aufhält. Wenn er nur hier wäre, sie würde auch den Mund halten, würde sich nicht einmischen, sich raushalten aus seinem Leben, seinen Entscheidungen. Schnell lässt sie die Arme sinken und schiebt die Pfanne beiseite, das Hackfleisch ist braun und duftet scharf und würzig. Sie häuft ein wenig auf die Gabel, pustet und probiert, reißt den Mund sofort weit auf und ringt nach Luft. Heiß, sehr heiß, ihr Gaumen schwillt ein wenig an, schlucken ist unmöglich. Sie rollt das Fleisch im Mund hin und her, ausspucken möchte sie nicht, und langsam wird es besser. Die Temperatur normalisiert sich und das Aroma breitet sich in ihrem Mund aus und kitzelt in der Nase. Sie kaut genussvoll und schluckt. Lecker! Sie schlägt Eier auf, lässt die goldenen Dotter im glibberigen Eiweiß in eine Schüssel gleiten, schlägt sie zügig mit der Gabel auf und gießt die saure Sahne an, verrühren, würzen, eine Prise Muskat, den geriebenen Käse unterziehen und schon entsteht eine sämige, zähe Masse. Derweil sitzen Horst Lichter und sein neuer Kumpel Hardy auf einem kleinen Dorfplatz in der Sonne und denken über das Leben und die Zeit nach, die ihnen noch bleibt. Guck mal, ein Maßband sagt der Horst, hundert Zentimeter könnten hundert Jahre sein. Wie alt wird ein Mann so ungefähr? Nehmen wir mal achtzig Jahre. Er schneidet das Maßband bei achtzig Zentimetern ab. Und jetzt nehmen wir mal mein Alter, sechsundfünfzig. Er schneidet das Band bei sechsundfünfzig ab, bleiben noch vierundzwanzig Jahre übrig. Ein kleiner Schnipsel weißen Bandes, vierundzwanzig mal Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Was macht man damit? Jeden Moment genießen! Ja, denkt sie, ja, das stimmt.

Ein glucksendes Geräusch

Auch sie ist sechsundfünfzig, genauso alt wie dieser Lichter und auch sie möchte genießen, bevor alles zu spät ist, sie das Alter spürt, in den Knien beim Laufen und in den Händen beim Arbeiten, im Kopf, wenn ihr die richtigen Worte nicht mehr einfallen und in den Ohren, wenn sie nicht mehr verstehen kann, was die Verkäuferin beim Bäcker fragt. Und sie sollte sofort mit dem Genießen anfangen. Im Kühlschrank steht eine Flasche Weißwein. Der Flaschenöffner schraubt sich quietschend in den Korken, sie spürt die Kühle der Flasche an der Innenseite ihrer Oberschenkel, presst die Beine fest dagegen und plop, die Flasche ist offen. Es entsteht ein glucksendes Geräusch, als sie die Flüssigkeit in das schön geschliffene Glas gießt, ein Erbstück der Mutter. Sie hebt das Glas, hält es gegen die Deckenlampe, so als würde sie jemandem zuprosten, ihrer toten Mutter vielleicht, oder ihrem Sohn, der sich totstellt, oder dem Mann, den sie gerne kennenlernen würde. Na dann, Prösterchen, sagt sie laut und führt das Glas zum Mund. Ihre Nase nimmt den Wein wahr, bevor die Zunge ihn schmeckt, ein schwacher Duft von hellblauen Hyazinthen, reifen Himbeeren und wildem Oregano. Gierig trinkt sie, der Wein kitzelt ihre Zunge, hunderte von kleinen Bläschen scheinen in ihrem Mund zu tanzen, sie schluckt die Blumen, die Kräuter, die Früchte und staunt. Ganz am Ende, ganz versteckt hinter Blüten und Beeren schmeckt sie die Erde, die Tiefe der Berge, Edelstein und Mineral. Sie nimmt noch einen Schluck, ja, das ist Genuss, ein kleines Glück aus Sonne und Erde geboren. Prost mein Sohn, ich liebe dich.

Ein rosa Ferkel

Sie holt die Plastikschüssel vom Schrank, in der ein Hefeteig unter einem Geschirrtuch geruht hat. Mit bemehlten Händen hebt sie die Teigkugel aus der Schüssel und knetet sie schnell und sacht zweimal durch. Die Masse lässt sich zusammendrücken wie ein Schwamm und bläht sich gleich danach wieder auf. Die Oberfläche fühlt sich samtig an unter ihren Händen, vorsichtig streicht sie darüber, als würde sie ein Haustier streicheln, ein rosa Ferkel oder eine nackte Maus, ganz weich und zart fühlt sich das an. Ihr Sohn hatte sich als kleiner Junge immer ein Haustier gewünscht, aber sie hatte es strikt abgelehnt, zu viel Haare, zu viel Dreck. Das war ein Fehler, ja, der Kleine wollte doch nur etwas zum Liebhaben, zum Kuscheln, Anlehnen, Verantwortung, Nähe. All das konnte sie ihm anscheinend nicht geben. Rabenmutter. Sie schlägt den Teig in die Backform und drückt ihn platt, von innen nach außen, kreisförmig dem Rand entgegen. Im Fernsehen nimmt Horst Lichter irgendwo in Cannes auf einem Sofa Platz, eine getigerte Katze rollt sich auf seinem Schoß zusammen und er fährt mit den Fingern durch ihr glänzendes Fell. Kommt das Glück mehrmals zu uns, fragt er die Frau im pinkfarbenen Kleid und diese nickt lächelnd, denn sie ist zum zweiten Mal verheiratet. Der Horst ist ja schon zum dritten Mal verheiratet. So viel Glück hatte sie nicht. Nur einen Ehemann, und das war der falsche. Schon kurz nach der Geburt seines Sohnes machte er sich aus dem Staub. Auf Nimmerwiedersehen. So sieht das Glück nicht aus! Rückwärts betrachtet weiß man, wo die glücklichsten Strecken im Leben waren, sagt der Lichter im Fernsehen und da hat er recht. Ein Baby im Arm zu halten, die Nase zwischen Ohr und Schulter in die weiche Säuglingshaut zu stecken und tief einzuatmen, dieser Geruch von Milch und Honig, das eigene Fleisch und Blut, das ist Glück. Der Teig füllt den Boden der Backform aus, wölbt sich am Ende zu einem stabilen Rand auf. Sie verrührt Zwiebeln, Hackfleisch und Speck, verteilt alles auf der Teigplatte, gießt die Mischung aus Eiern, Sahne und Käse darüber, verteilt den restlichen Käse und Butterflöckchen auf der Oberfläche und ab damit in den vorgeheizten Backofen. Jetzt hat sie eine halbe Stunde Pause und schaltet die elektrischen Kerzen am Weihnachtsbaum ein. Dann warten, noch ein Glas Wein, Schuhe aus und die Beine hochlegen. Hoppla, sie muss ein bisschen weggenickt sein, im Raum hängt ein süßlich herber Duft, der Zwiebelkuchen ist fertig. Sie braucht keine Uhr, sie riecht es. Der Kuchen hat eine glänzend braune Kruste. Sie schaltet den Backofen ab und stellt die Form mit dem Kuchen auf ein Holzbrett ans Fenster zum Auskühlen. Ein bisschen warten, vielleicht kommt er doch noch. Sie deckt den Tisch für zwei, schlägt die weiße Tischdecke auf, lässt sie auf die Tischplatte sinken und streicht sie mit den Händen glatt. Die guten Teller mit dem Goldrand, Messer und Gabel, Stoffservietten, die geschliffenen Gläser für Wasser und Wein, eine Kerze. Die Blechform öffnen, der Kuchenrand löst sich perfekt von der Form. Das scharfe Messer gleitet sauber durch die krosse Oberfläche und zerteilt den Kuchen in dreieckige Teile.

Der mürbe Teig

Sie setzt sich an den Tisch, löst vorsichtig ein Stück Kuchen vom Blechboden und tut sich auf. Die Zwiebeln dampfen, sie sticht die Gabel in die Kruste, die leise knistert. Es schmeckt herrlich, der mürbe Teig, der sich im Mund mit den saftigen Zwiebeln und dem deftigen Fleisch mischt, die Kruste, die zwischen den Zähnen kracht. Sie hat Hunger und isst gierig ein zweites Stück, während Horst Lichter und Hardy im Dorf Cabris ankommen. Hier lebte die Mutter von Antoine de Saint-Exupéry, der den Kleinen Prinz schrieb. Er war Pilot und wenn er über den Ort flog, wackelte er mit den Flügeln seiner Maschine, um seine Mutter zu grüßen. Wenn ihr kleiner Prinz sie wenigstens grüßen würde, wenigstens eine Postkarte zu Weihnachten oder ein Telefonanruf, aber nein, nichts. Nur mit dem Herzen sieht man gut zitiert Horst Lichter und sie hebt das Glas dem Fernsehgerät entgegen. Fröhliche Weihnachten sagt sie laut, und fröhliche Weihnachten, mein kleiner Prinz prostet sie der Wohnungstür zu. Es klingelt, sie hastet zur Tür, Hannes!

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