Zuckerguss für den Verstand
Zuckerguss für den Verstand – das Glück im TV …
und die Möglichkeit, wahrhaftig zu bleiben
Zuckerguss brauchen wir manchmal. Süßes schmeckt gut. Daran halten sich auch die Buch- und die TV-Industrie. Besonders die Herzfilme wiegen uns in einen seligen Dämmerschlaf. Damals, als alles noch gut war. Aber muss das so sein?
Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung, lautet der berühmte Titel des Romans von Eric Malpass aus dem Jahr 1967. Er erzählt eine Familiengeschichte aus der Sicht eines sechsjährigen Jungen, für den bald darauf gar nichts mehr in Ordnung ist. Der Film Das Leben ist ein langer, ruhiger Fluss (1988) handelt vom genauen Gegenteil eines langen, ruhigen Flusses alias Leben. Familienkonstellationen, die anfangs in ihrem Oberschichtendasein geborgen erscheinen, werden aufgebrochen und die Gefühlswelt der Figuren gehörig durcheinander geschüttelt. Der Roman Heile Welt von Walter Kempowski (1998) nimmt das Klischee des idyllischen Dorflebens auf . Bald schläft kein Gartenzwerg mehr ruhig.
So können Titel täuschen
Wenn Bücher es ernst meinen mit dem Versuch, die Welt oder einen Ausschnitt davon erlebend zu verstehen. Wenn sie es ernst meinen damit, den Leser oder Zuschauer mit auf eine Reise zu nehmen, auf der wir etwas Neues, Unbekanntes, „Unerhörtes“ erleben können.
Sehnsucht nach heiler Welt
Unsere Sehnsucht nach Ordnung ist legitim und groß. Wenigstens bis sieben Uhr morgens sorgenfrei sein. Nach einem zufriedenen und glücklichen Fluss des Lebens zu streben, ist allzu verständlich. Darin drängt alles nach vorne, geordnet, der Perfektion entgegen. Unsere Hoffnung auf etwas Glück, wenigstens auf dem Dorf, ist nur allzu berechtigt. Doch leider wird es in den „Herzfilmen“ im ZDF nur vermeintlich erfüllt: Dort bringt die Dorfhelferin mit dem Herzen auf dem rechten Fleck bei Tante Emma die Welt wieder ins Lot, und am Stammtisch klatschen sie Beifall.
Affe tot
Es gibt zwei Möglichkeiten, mit dem Chaos, das uns das Leben bietet, umzugehen: Manche Filme, manche Romane, verstärken die Krise. Sie stellen die Welt komplett auf den Kopf, um sie am Ende um Erkenntnisse und Erlebnisse reicher und verändert neu zu ordnen. Andere, wie die genannten Herzfilme, übergießen tatsächliche Konflikte mit einem süßen Guss. Sie bereiten schon anfangs die Gewissheit auf Harmonie. Diese tritt dann am Ende mit lachenden Gesichtern und küssenden Mündern auch ein. Erwartung erfüllt, Affe tot. Nichts hat sich da verändert. Der Film lässt einen Geschmack zurück, der schnell schal wird. Wie von einem Cupcake, dem modernen Kuchen der modernen Hausfrau, die wie in den 50er Jahren arg viel Süßes für ihre Lieben bereithält. In den 50er Jahren dominierten Rosa und Hellblau, auch beim Melitta-Geschirr. Heutzutage ist es nicht mehr pastell, sondern ziemlich grell und viel zu süß. Und immer schon war das Übersüße ein Mittel, Konflikte zu übertünchen.
Bemerkenswert ist, dass angesichts des zunehmenden Chaos’ um uns herum das Fernsehen die Aufgabe übernimmt, in seinen so genannten Spielfilmen die heile Welt (nicht nur) am Sonntagabend wieder herzustellen. Das passiert im Tatort, wenn am Ende der Täter dingfest gemacht ist, und wir schon von Beginn an wissen, worauf es hinausläuft. Auch im parallel dazu ausgestrahlten Herzfilm, in dem der Kosmos im dörflichen, im adeligen oder im schwedisch-norwegisch-US-Südstaaten-Sizilien-Idyll nur wenig wackelt. In dem wir uns an den Landschaftsaufnahmen laben können. So fällt es kaum auf, wenn alle Einheimischen in der fremden Umgebung nicht nur Deutsch sprechen, sondern sich auch auffällig deutsch kleiden:
Wir wissen, was wir von unserem Sonntagabend zu erwarten haben.
Heile Welt, kleines Erdbeben, heile Welt
Und montags um sieben geht’s gestärkt an die Arbeit. Sofern wir noch eine (ordentlich bezahlte) haben. Wir können uns nun die soziologisch hoch interessante Frage stellen, warum sich das deutsche Fernsehen in landschaftlich und eigentlich auch kulturell fremde Gefilde begibt, um ein umso deutscheres Bild der Welt zu konstruieren. Wir müssen nicht gleich eine Antwort parat haben.
Diese Filme greifen das Chaos der Welt nur an einem kleinen Zipfel. Sie setzen sich die Zipfelmütze einer fremden, aber doch sehr vertrauten Kultur als Verkleidung auf. Und stellen eine Weltmännischkeit zur Schau, die nicht weiter reicht als bis zur eigenen Zwergnasenspitze. Filme (und Bücher) dagegen, die sich im lokalen Milieu verankern und versuchen, hinter der Oberfläche zu kratzen, wie z.B. Oh Boy ( 2012, Regie: Jan Ole Gerster) oder der wunderbare The Station Agent (2003, Regie: Tom Mc Carthy) – ja, diese Filme werden um Mitternacht, auf Arte oder überhaupt nicht gezeigt.
Worauf will ich mit diesen Gedanken hinaus? Ich möchte mit diesem Text zeigen, was Schreiben auch bedeuten kann: Gedanken zu formulieren, noch ohne ein Ergebnis zu haben. Sonst wabern diese Gedanken im Gehirn weiter. Und legen sich dann in Nischen. Sie nicken ein und wir vergessen sie. Eingeschläfert vom Cupcake-Guss der Herzfilme und vom Guten-Mensch-Syndrom der Tatort-Kommissare. Denn (bei uns) ist ja (noch) alles gut. Dass das eine Lüge ist, wissen inzwischen eigentlich alle. Und lassen sich weiter mit Gelierzucker übergießen. Da muss man lange duschen.
Schreiben kann helfen
Schreiben kann gegen die süße Glasur der deutschen Herzfilmindustrie helfen. Es ist ein Instrument, zumindest einen Gedanken zu denken, wenn auch vielleicht nicht bis zu seinem Ende. Heinrich von Kleist hat in seinem berühmten Artikel Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden aus dem Jahr 1805 seine Leser dazu aufgefordert, über Dinge, die sie (noch nicht) verstehen, zu reden. Sich sozusagen auf die Suche nach weiteren Gedanken zu gehen, die sie im Gespräch – und das Schreiben ist auch eine Art (Selbst)Gespräch – erst finden.
Das ist, so meine Überzeugung, das wirkliche Abenteuer des Schreibens. Wir machen uns auf den Weg, um etwas zu verstehen, etwas zu artikulieren, das noch nebelartig in unserem Kopf geistert. Dann versuchen wir, den Gedanken Gestalt und Form zu verleihen. Vielleicht finden wir dann – morgens um sieben! – einen Gedankenblitz, eine Einsicht, eine Erweiterung unserer Möglichkeiten. Denn unser Gehirn arbeitet weiter. Ganz allein. Geben wir ihm Impulse und Konzentration, können wir uns darauf verlassen. Es wird Lösungen finden. Die können sich als Text manifestieren.
Das Angebot von schreibwerk berlin verstehen wir entsprechend: Die Teilnehmer:innen müssen die Geschichten, die Gedanken, die Gefühle … anfangs nicht auf dem Silbertablett präsentieren. Wenn du dich aber auf den Weg begeben willst, etwas zu finden, deinen eigenen Horizont zu erweitern, dann stehen wir auf deiner Seite. Denn unsere Kurse bieten dir einen Prozess. Anfangs hast du den Wunsch zu schreiben. Wie das geht und wie du zu Ideen und schließlich zu guten Texten und zur tollen Geschichte findest, das erlebst du in unseren Kursen. Du erweiterst dein Wissen, deine Fähigkeiten – und schließlich auch deine Persönlichkeit.
Du bist herzlich eingeladen, die Gedankenanfänge, die ich hier präsentiere, in deinem Sinne weiter zu denken.
Bild: Fran Jacquier on Unsplash