Was ist ein erfülltes Leben?
Essay von Muriel Fendorff
Muriel Fendorff lebt im Land zwischen den Meeren. Bislang hat sie sich der Fiktion gewidmet, entdeckt aber gerade, wie gut sich die Gedanken beim Schreiben von Essays entwickeln. Der Text ist im Online-Kurs Essay schreiben “Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen” entstanden.
Gleich zu Beginn muss ich einen Offenbarungseid leisten.
Eine kurze Abhandlung zu der Frage: “Was ist ein erfülltes Leben?” dachte ich, kann doch nicht so schwer sein. Ein bisschen so, ein bisschen anders, und am Ende jeder, wie er meint. Bei philosophischen Fragen wie dieser gibt es doch kein Richtig und kein Falsch.
Aber so einfach ist es nicht, muss ich feststellen. Jede Frage scheint sich in mindestens zwei aufzuspalten, und jede Antwort wirft neue Fragen auf. Die Gedanken umschlingen und verknäulen sich. Ich komme ins Schwimmen. Gehe unter, die Wogen schlagen über mir zusammen, ich versuche, mich an die Oberfläche zurückzukämpfen.
Dort beginnt alles wieder von vorn.
Ich muss wohl einräumen, dass ich es nicht schaffe, auf die Frage nach einem erfüllten Leben eine Antwort zu geben.
“Nimm dir nichts vor, dann schlägt dir nichts fehl”, lautete der Spruch einer längst verstorbenen Großtante.
“Wer zu den Gründen geht, geht zugrunde“, pflegte meine Großmutter zu sagen. Ein Satz, den ich übrigens nicht unterschreibe.
Aber vielleicht sollte ich mit ihr anfangen, meiner Großmutter, denn es war ihr Ableben, das mich zum ersten Mal mit dem Thema konfrontierte. Wenn ich es schon nicht bewältige, will ich wenigstens das mit dem Leser teilen, was ich habe.
Trost und Bilanz erfülltes Leben
“Dass es ein so volles und erfülltes Leben gewesen ist, lindert unseren Schmerz und unsere Trauer.”
So stand es kurz vor Weihnachten 1980 in der Traueranzeige.
Auf den ersten Blick war das für mich, damals sechzehn, nur eine Floskel, mit der man sich und andere zu trösten versucht. Beim zweiten Hinsehen fiel mir die Unterscheidung zwischen “voll” und “erfüllt” auf.
Ereignisreich und bewegt war das Leben meiner Großmutter mit Sicherheit.
Kindheit und Jugend im damaligen Schlesien, Hungerjahre im Internat in Dreußig, wo sie zuerst die Spanische Grippe und dann die Tuberkulose überlebte. Ihr Faible für die nordische Landschaft, das sie dazu brachte, eine Stellung als Hauslehrerin auf einen Gutshof in Angeln anzunehmen. Der junge Erntehelfer, der sich mit der Saisonarbeit auf dem Hof sein Jurastudium finanzierte. Eine glückliche Ehe mit fünf Kindern und neun Enkeln, aber auch Jahre von Diktatur und Krieg, Sorgen, Hunger und schwerer Krankheit.
Ja, das reicht für ein Leben. Es war voll von Ereignissen, Erfahrungen, Fügungen, Glück und Leid.
Aber auch erfüllt? Was heißt das überhaupt?
In ihrem Kriminalroman “Die verfolgte Unschuld” lässt Josephine Tey ihre Protagonistin Marion Sharp sagen: “Ein erfülltes Leben ist, soweit ich es sehe, in der Regel mit nichts anderem erfüllt als Anforderungen anderer Menschen.” (Die verfolgte Unschuld, DuMont, Köln, 2. Auflage 1992, S. 290)
Die Zunge der Sprecherin war wohl so scharf wie ihr Nachname. Verbuchen wir das als Bonmot und suchen uns lieber seriöse Quellen.
Der Begriff “Erfüllung”
Unter Erfüllung ist laut Wikipedia zu verstehen: “Befriedigung im Hinblick auf ein begehrtes Ziel”.
Ein erfülltes Leben wäre demnach eines, in dem sich die eigenen Wünsche zumindest in dem Maße verwirklicht haben, dass der Betreffende mit der Bilanz zufrieden ist.
Befragt man das Medium unserer Zeit, das Internet, was ein erfülltes Leben ausmacht, findet man alles, was dazu beiträgt, die eigene Zufriedenheit zu steigern. Soziale Kontakte, Gesundheit und Hobbys sind die obersten objektiven Kriterien, während Dankbarkeit und der Mut, sich mal auf ein Abenteuer einzulassen, als subjektive Aspekte eines erfüllten Lebens genannt werden.
Spätestens, wenn man nach Rat für Menschen sucht, die sich unausgefüllt fühlen, stößt man auf eine Art Dreifaltigkeit der Begriffe Sinn, Erfüllung und Glück. Und schon beginnt mein Thema, sich aufzufasern: Frage ich nicht eigentlich nach dem Sinn des Lebens? An der Antwort darauf sind schon ganz andere gescheitert. Oder ist es das glückliche Leben, das mich interessiert, weil wir es ja schließlich alle wollen?
Ich versuche, vom reinen Wortverständnis her die Begriffe einzuordnen.
Sinn verstehe ich als etwas Objektivierbares, als einen Zweck.
Füllen oder Erfüllen heißt, eine Leere, ein Vakuum beseitigen. Stellen wir uns also den Sinn als Gefäß vor, das voll werden möchte.
Wenn dies gelungen ist, mag sich das subjektiv empfundene Glück einstellen.
So ein Gefäß kann der Wunsch nach Familie und Kindern sein, aber auch eine spezielle Begabung. Ebenso der Wunsch, etwas zu bewirken, in der Gegenwart oder für die Nachwelt. Die Sehnsucht zu reisen. Das Bedürfnis, sich auszudrücken, als Schriftsteller, Musiker, Maler.
In der Dokumentation “A Year in the Life” von 2007 sagt J. K. Rowling auf die Frage, wie man sich später an sie erinnern soll: “Als an jemanden, der aus seinen Talenten das Beste gemacht hat.” Glück, das sei für sie “eine glückliche Familie”.
Talent und der Wunsch nach Familienglück: zwei Gefäße.
Ein erfülltes Leben? In diesem Fall bestimmt. Und mir fällt auf: Die Gefäße hat Rowling selbst definiert.
Und damit sind wir bei einer zentralen Frage: Was wollen wir, was will jeder Einzelne von uns, im Leben, vom Leben?
Der Titel des Buchs “5 Dinge, die Sterbende am meisten bereuen” von Bonnie Ware stellt mir ein Schreckensszenario vor Augen: dass man nämlich erst auf dem Sterbebett erkennt, was das eigene Leben wirklich ausgefüllt hätte.
Ich habe das Buch nicht gelesen und werde es auch nicht tun. Ich bin ein Feigling, ein Timido, und will mit solchen Vorstellungen nicht konfrontiert werden.
Aber es ist nicht nur das. Irgendetwas an dem Konzept eines erfüllten Lebens stört mich. Ich will versuchen, es zu erklären, und dazu muss ich etwas ausholen.
Frag nicht
Die Menschheitsgeschichte ist voll von zu früh Verstorbenen, von Unglücklichen, Gescheiterten, von Opfern ihrer Zeit, ihrer Welt, ihrer Mitmenschen. Viele von ihnen haben der Nachwelt Wertvolles hinterlassen, wie Wolfgang Amadeus Mozart, der nur 35 Jahre alt wurde, oder Franz Kafka, der, von der Tuberkulose dahingerafft, sein Werk vernichtet sehen wollte.
Alan Turing knackte den Enigma-Code, trug damit zur Beendigung des 2. Weltkriegs bei und rettete zahllose Menschenleben. Am Ende beging er höchstwahrscheinlich Selbstmord, weil sein Leben durch die fatale „Behandlung“ seiner Homosexualität nicht mehr lebenswert war.
Anne Frank, im Alter von 15 Jahren elend im Konzentrationslager umgekommen, hinterließ der Welt ein einzigartiges Zeitzeugnis.
Dürfen wir behaupten, sie alle hätten kein erfülltes Leben gehabt? Dürfen wir behaupten, ihr Leben sei erfüllt gewesen?
Beide Aussagen verbieten sich. Allein die Frage nach Lebenserfüllung zu stellen, erscheint geschmack- und pietätlos. Es ist wie mit der Teilung einer Zahl durch Null. Es geht einfach nicht.
Und dann ist da noch die große Masse an Menschen, von denen wir nie erfahren. Die sang- und klanglos, ohne eine Spur zu hinterlassen, ihr Leben leben. Vielleicht haben sie Anlagen, die nicht gefördert werden, Talente, die nicht zum Tragen kommen. Vielleicht sind sie aber auch in jeder Hinsicht einfach Mittelmaß.
War ihr Leben erfüllt, wenn sie damit zufrieden waren?
Unerfüllt, wenn nicht?
Wie können wir uns überhaupt anmaßen, Bilanz ziehen zu wollen? Warum stellen wir die Frage nach einem erfüllten Leben?
Ein Luxusproblem?
Es gab Zeiten, in denen man nicht einmal den Begriff kannte und niemand über so etwas nachdachte.
In der Vor- oder Frühzeit des Menschen gab die Evolution den einzigen Lebenszweck vor: das Überleben der Spezies. Es galt, überhaupt am Leben zu bleiben und sich so gut wie irgend möglich auf die widrige Umwelt einzustellen.
Im Zeitalter des Glaubens war ein gottgefälliges Leben das Höchste, denn es galt, wenn die kurze und mehr oder weniger elende Frist auf Erden endete, zumindest nicht der ewigen Verdammnis anheimzufallen.
Erst mit Aufkommen des Humanismus rückte der Mensch sich selbst mit seiner Individualität in den Mittelpunkt. Er begann, über die Bedeutung des einzelnen Lebens nachzudenken und wurde sein eigener Sinnstifter. Aber immer noch war das durchschnittliche Leben zerbrechlich und kurz. Die Suche nach Sinn speiste sich aus der Vergänglichkeit. Wenn zu der Zeit jemand nach einem erfüllten Leben strebte, dachte er vermutlich daran, etwas zu schaffen, das die Zeit überdauert, sei es eine Familie, ein Bauwerk oder ein Geschäft.
Und heute, bei der höheren Lebenserwartung, den besseren, im Vergleich zu manch finsterer Epoche geradezu paradiesischen Lebensverhältnissen und einer abgeklärten, durch die Wissenschaft geprägten Weltsicht?
Ist der Wunsch nach einem erfüllten Leben ein Luxusproblem unserer Zeit?
Irgendwie ja.
Und irgendwie nein.
Nach wie vor bringt uns unsere Sterblichkeit in eine furchtbar zerrissene Lage. Das Leben ist vergänglich, zerbrechlich, es kann objektiv kurz sein oder in unserer Wahrnehmung. Gleichzeitig ist es unendlich wertvoll, denn es ist alles, was jeder von uns hat. Darum haben wir das Bedürfnis, etwas aus unserem Leben zu machen, zumindest für uns selbst, vielleicht auch für andere oder gar die Nachwelt. Unser Leben, wenn es denn vorbei ist, soll nicht egal, gleich, gewesen sein. Es soll etwas ausgemacht haben.
Ein Luxusproblem? Wer sehr alt ist oder eine tödliche Diagnose erhalten hat, empfindet es nicht als solches.
Aber was besagt das?
Bitte keine Selbstüberschätzung
Chris Niebauer, der Autor von “No Self, No Problem” hält die Individualität für eine subjektiv empfundene Illusion.
Stephen Hawking nimmt an, dass das Universum als Ganzes und das Leben auf der Erde durch reinen Zufall entstanden sind. Es gebe keinen Gott und keinen Sinn, den es zu erfüllen gelte. Nur wir selbst können einen Sinn für unser eigenes kleines Leben definieren.
Mit “The Sunny Nihilist” geht Wendy Syfret in eine ähnliche Richtung: Genießen wir doch, dass es keinen Lebenssinn gibt, den wir verfehlen könnten.
Mein Vater sagte einmal: “Der Sinn des Lebens besteht darin, mit der Sinnlosigkeit des Lebens am besten fertig zu werden.”
Ich mag diese Einstellung. Sie bürdet uns zu den Fährnissen des Lebens nicht auch noch die Obliegenheit auf, glücklich zu sein und ein (wie auch immer, ich weiß es nach wie vor nicht) erfülltes Leben zu führen.
Erlösung
Auf den Punkt bringt es Fred Vargas. In “Vom Sinn des Lebens, der Liebe und dem Aufräumen von Schränken” (Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin, 5. Auflage 2009) schreibt sie: “ … daß das Leben mit dem Moment einen Sinn erhält, da ihr es lebt.” Und: ”Ein Leben hat einfach gelebt zu werden, das ist sein ganzer Sinn …”
Einen darüber hinausgehenden gebe es nicht. Ebenso wenig wie “volle Leben und leere Leben”. erfülltes Leben
Erlösende Worte, die uns von einer Last befreien. Wir müssen nichts Großartiges tun oder erreichen. Wir können so leben, wie es unserer Natur entspricht, soweit wir keinen anderen damit schädigen. Den Sinn des Lebens erfüllen wir damit nicht mehr oder weniger als jeder andere.
Eines nimmt mich für diese Sichtweise besonders ein: Das Leben eines totgeborenen Kindes ist damit genauso sinnerfüllt wie das eines Neunzigjährigen. Anders kann es auch gar nicht sein.
Das Leben will gelebt und ausgekostet werden. Aber wir müssen uns nicht mit der Frage belasten, was wir ohne berufliche Errungenschaften, ohne Kinder oder ohne weit gereist zu sein, wert sind. Und, um Himmels willen, quälen wir uns auf dem Sterbebett nicht zusätzlich, indem wir mit der Art, wie wir gelebt haben, hadern! Mir fällt kaum etwas Dümmeres ein, was man in dem Moment tun könnte.
Die Todesanzeige für meine Großmutter war übrigens das vorletzte Mal, dass jemand in der Verwandtschaft den Begriff des erfüllten Lebens benutzt hat.
Stattdessen versuchte man, die Bilanz mit anderen Worten zu vergolden:
“Sie ist nie seelisch vereinsamt.” – “Er hat intensiv erlebt, mit allen Höhen und Tiefen.” – “Es war ein privilegiertes Leben.”
Vor ein paar Jahren kam es dann doch noch einmal, nach einem Todesfall im Familienkreis.
“Man könnte sagen, sie hatte ein erfülltes Leben”, sagte der eine.
“Es war ein erfülltes Leben”, antwortete ein anderer.
“Sie ist viel gereist”, kam von einem Dritten. erfülltes Leben
OK.
Foto von Wilfried Santer auf Unsplash