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Ursula Sinemus

Das Leben gehört den Lebenden

“Das Leben gehört den Lebenden”,

so lautet der Titel des zweiten Romans  von Ursula Sinemus und das war auch Ursulas Lebensmotto. Sie starb in den frühen Morgenstunden des 02. Mai im Alter von 79 Jahren in Mölln.

Es gibt Begegnungen, die sind ganz besonders. Die von Ursula Sinemus und mir war so. Komisch, schüchtern, auf jeden Fall nachhaltig. Komisch war ich, schüchtern war sie: Ursula – aber nur auf den ersten Blick. Kannte man sie näher, schälte sich eine Draufgängerin heraus: sie war unerschrocken, sie war abenteuerlustig – und immer neugierig. Und sie war bescheiden. Das hatte ich wohl anfangs mit Schüchternheit verwechselt.

Sie sind das?

Als Ursula Sinemus und ich uns im Jahr 2004 zum ersten Mal begegneten, da wartete ich auf sie im Salon des Literaturladens Wist in Potsdam. Sie stieg die Wendeltreppe hoch – und ich habe Zeitung gelesen. Langsam soll ich sie, wie sie mir erst vor kurzem noch einmal erzählt hat, zusammengefaltet haben, als störe Ursula Sinemus mich bei der Lektüre. Dabei wartete ich doch auf sie, denn sie war die einzige Teilnehmerin meines ersten Kurses für biographisches Schreiben. Ich faltete also betont langsam die Zeitung zusammen, hob den Kopf und sagte, „Ach, Sie sind das?“, als hätte ich noch jemanden erwartet.

Heute bin ich ihr unendlich dankbar dafür, dass sie nicht gleich wieder kehrtmachte.

Lust auf Leben

Sie war gekommen, um ihr Leben aufzuschreiben, der Kurs sollte fünf Tage dauern – und die brachten uns dann tatsächlich zusammen. Dass sie auch auf die Mail, die ich ihr im Vorhinein geschrieben hatte, nicht negativ reagierte, zeigt ihre Neugier. Hatte ich doch tatsächlich in meinem Übermut ihrer Begleiterin empfohlen, während der Schreibstunden am Heiligen See in Potsdam zu baden oder sich alternativ mit den Ameisen zu amüsieren, die sicher über sie hinweg krabbeln würden. Wahrscheinlich dachte ich, Kreativschreiblehrer müssten selbst ungeheuer kreativ sein.

Wieso setzte sie sich dann doch tagelang mit mir zusammen?

Das kann tatsächlich nur daran gelegen haben, dass sie ein Ziel hatte: Sie wollte schreiben lernen. Sie war damals 64 Jahre alt, kam aus einer hohen Ministerialposition – und war bereit, wieder die Schulbank drücken, um die Öde zu vertreiben, die sie wohl bei mancher Aktenlektüre empfunden haben muss.

Wir saßen also eine Woche lang zusammen und lernten uns kennen. Sie konnte ihren ersten Eindruck korrigieren und ich durfte in eine Seele blicken, die tief und rein war. Das mag pathetisch klingen, aber ich kenne keinen anderen Menschen mit einer solchen Güte und menschlichen Größe. Gepaart mit einer großen, fast kindlichen Lust auf Leben. Sie wollte jetzt endlich all das, was sie Jahrzehnte lang bedrückt (oder auch erfreut) hatte, aufschreiben, sie wollte sich klar werden darüber, was ein Leben ausmacht, wie man vielleicht manchmal auch falsche Weichen stellt oder es der Zufall möchte, dass man jemanden trifft, den man lieben kann.

Abenteuer Fiktion

Aus ihren Memoiren wurde nichts, aber aus unserer Freundschaft wurde etwas – und die sollte dauern bis jetzt. Sie sagte: „Ach, mein Leben, wen interessiert das schon?“ und stürzte sich ins Abenteuer der Fiktion. Mit zunehmender Freude entwickelte sie Figuren und Plots und schrieb Kurzgeschichten und drei Romane. „Späte Lieben“ heißt das Erstlingswerk, „Das Leben gehört den Lebenden“ der zweite Roman. Der dritte ist leider nicht ganz fertig geworden. Sie hat ihn mir anvertraut mit der Maßgabe, ich hätte freie Hand, ihn zu beenden. Ich hoffe, ich werde diesen großen Entwurf in ihrem Sinne weiter schreiben können.

Das bleibt mir also von ihr. Und nun versuche ich rauszukriegen, wie Judith dachte, wie Eva dachte und vor allem handelte, denn sie ist eine Terroristin und es fällt mir schwer, diese Figur nicht nur interessant, sondern auch sympathisch zu finden.

Aber so war Ursula Sinemus: Sie hat ihre Aufgaben ernst genommen, großartige Frauenfiguren geschaffen und sie schreckte vor Charakteren mit inneren Widersprüchen nicht zurück. Im Gegenteil, die Herausforderung spornte sie an. Darüber hinaus war sie eine sehr gute und genaue Plotterin. Manchmal hatte sie es mit der Beschreibung nicht so, da musste ich dann mahnen und sagen: „Ursula, bisschen mehr Teppich bitte.“ Der „Teppich“ war unser Codewort für die Brücke zum Publikum, das sich nur mit ausreichend Beschreibung in der Welt der Erfindung bewegen kann. Dann seufzte sie, sagte, „Jawoll Prof“, und lieferte. Oft brauchte sie nur ein Stichwort, um gute Literatur zu schreiben. Mit jedem Buch wurde sie besser.

Ihre Romane handeln vom Schicksal der Menschen im 20. Jahrhundert – genau, auf den Punkt. Betrogen, hadernd, handelnd, liebend, politisch verführt, politisch radikal – stehen sie beruflich sowie privat mitten in einem prallen Leben.

Das Buch ist fertig

Auch ihres war so: beruflich und privat prall. Sie hatte gute letzte Jahre, wenn man von den beiden ihrer Krankheit absieht: Sie durfte sich in das Abenteuer der Erfindung begeben, sie hat es genossen, ihre Texte vor Publikum zu lesen und viel Anerkennung erfahren. Aber sie genoss es auch, zu reisen – vor allem auf dem Schiff. Gute Gespräche, gutes Essen, ein guter Wein dazu: und Ursula war glücklich. Ich hoffe, das ist sie jetzt auch.

Und das Buch ist fertig geworden! Ich habe es ihr versprochen.

 

Späte LiebenDas Leben gehört den Lebenden

 

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