Stimmen, Stimmen, Stimmen – eine Kurzgeschichte von Silvio de Zanet
Für gewöhnlich gestaltet Silvio De Zanet in Zürich Gebrauchsgrafik. Wie ihm die Schreiblust zustossen konnte, hat sich ihm noch nicht ganz erschlossen. Es muss mit dem Online-Kurs Literarisches Schreiben zu tun haben, an den er sich anfangs Jahr bedenkenlos und ein bisschen fahrlässig anmeldete, und der aus ihm Geschichten zutage förderte, über die er jetzt noch rätselt. Er war ja bloss auf der Suche nach einem harmlosen Zeitvertreib gewesen.
****
Stimmen, Stimmen, Stimmen
ist eine Kurzgeschichte, die eben das: Stimmen – im Kopf oder tatsächliche? – inszeniert. Silvio de Zanet versteht es, mit dem Leser/der Leserin zu spielen, auch (vielleicht nicht nur augenzwinkernd) mit dessen/deren Ambitionen auf die Berühmtheit durch das Schreiben. Es ist eine Achterbahnfahrt der Vorstellungskraft, auf die uns der Zürcher Autor hier einlädt, aber er passt schon auch auf, dass uns nur leise schwindlig wird. Das Spiel mit Perspektiven, mit der Wahrheit und der Wirklichkeit, das Zerren und Verzerrte des Erlebens: all das serviert er uns hier vergnüglich – mit einem Hauch von Krimi, einem Hauch von roman noir – und mit ganz viel feiner Ironie. Überzeugen Sie sich selbst. Und seien Sie nicht überrascht: im Schweizerdeutsch gibt es keine “ß”. Viel Vergnügen bei der Lektüre (HL).
Leseprobe (die komplette Kurzgeschichte finden Sie hier)
Während mich der Lift in gefühlter Lichtgeschwindigkeit in den achten Stock hinaufschoss, war die Welt wie ich sie kannte, noch in Ordnung. Das Verlagshaus Dark & Stormy belegte die zwei obersten Stockwerke eines repräsentativen Gebäudes, hoch über einem lärmigen, stark frequentierten Platz. Theron Chronstein, der Verlagsleiter und zugleich Besitzer, hatte den Platz einmal mit einer Schweizer Uhr verglichen, auf dem alles, was sich darüber bewegte, sei es ein Lastwagen oder eine Frau mit Kinderwagen, nur ein Rädchen in einem Getriebe sei, das zu einem grösseren Ganzen gehörte, zu einem uralten, ausgeklügelten Plan. Dass er das so sah, wunderte mich nicht. Seinem durchdringenden Blick entging nichts, kein Buchstabe konnte im Verlag geändert, keine Seite umgeblättert werden, ohne dass er davon Kenntnis gehabt hätte.
Für mich war der Platz einfach ein chaotisches, ja gefährliches Gewusel an Verkehrsteilnehmern, bei dem der einzige Plan, den es allenfalls geben konnte, darin bestand, ihn heil zu überqueren. Wie immer empfing mich Frau Stockhausen, hinter ihrem riesigen, stets aufgeräumten Arbeitstisch und wie immer schäkerte ich mit ihr, was das Zeug hielt. Vom herrlichen Apriltag inspiriert, verglich ich sie heute mit einer zarten Frühlingsblüte. Die zierliche Frau, die wie Theron Chronstein weit über achtzig sein musste, kicherte und entgegnete, dass der Weg in die Hölle mit Heuchelei gepflastert sei.
»Wie ist die Laune von Exzellenz?«, fragte ich lächelnd.
»Ach, Herr Kaiser«, antwortete sie und machte dabei ein betroffenes Gesicht.
Ich warf ihr einen besorgten Blick zu.
»Theron ist heute zuhause geblieben, es ging ihm nicht besonders«, seufzte sie. »Diese Wetterkapriolen machen ihm zu schaffen. Gestern nass und kalt, heute Hitze und für morgen hat Meteo Schweiz den Orkan Olaf angekündigt.«
»Ein Orkan? Hier in Zürich?« Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen.
»Werden Sie mal so alt wie wir, dann wird Ihnen das Lachen schon vergehen«, tadelte sie mich scherzhaft.
»Dass Theron alt ist, wissen wir beide«, flüsterte ich verschwörerisch. »Aber Sie … Frau Stockhausen.« Ich mimte Empörung.
»Die Hölle rückt näher, Herr Kaiser«, quietschte sie kokett. Sie holte ein Dossier aus einer Schublade und schob es mir über den Tisch. »Aber Sie sind nicht vergebens gekommen, Theron hatte die Zahlen bereits zusammengestellt. Sie können sich die Unterlagen gerne in Ruhe ansehen, ich lasse Ihnen einen Kaffee bringen. Oder möchten Sie lieber Wasser?«
Ich setzte mich auf das halbrunde Empfangssofa gegenüber ihres Arbeitstisches. Mein letztes Buch, Harte Lügen, hatte der Verlag pünktlich zum Weihnachtsverkauf herausgebracht und nun war ich gespannt, wie die Verkäufe im ersten Quartal gelaufen waren. Ich ging das Dokument durch, und dann noch einmal. Ich war irritiert. Das können unmöglich die richtigen Unterlagen sein, dachte ich, nachdem ich die Verkaufszahlen durchgegangen war, die der Verlag wie üblich nach Ländern gegliedert hatte: bei den meisten Ländern stand in der Spalte Umsatz eine Null. Da war ich anderes gewohnt. Abgesehen vom Buch, das ich vor Harte Lügen verfasst hatte und das sich schlecht verkaufte, konnte ich auf satte Verkaufszahlen zurückblicken.
Ich blickte auf. Frau Stockhausens schwarze Äuglein waren hinter ihrer goldumrandeten Brille auf mich geheftet. »Sie haben sich sicher gefragt, wieso bei den meisten Ländern kein Umsatz verzeichnet ist«, sagte sie. »Das sind all die Länder, die Ihr neues Buch nicht verlegen werden«, erklärte sie mir.
»Was heisst, nicht verlegen werden?«, wollte ich wissen.
»Nehmen wir als Beispiel den japanischen Verlag, der für Harte Lügen keine Lizenz beantragte. Der Grund dafür lag vielleicht an Ihrem vorherigen Buch, das sich, wie Sie ja wissen, schlecht verkauft hat. Kann sein, dass sie nun der Auffassung sind, dass Ihr Name in Japan nicht mehr zieht. Herrn Kobayashi aus Tokio, Sie mögen sich vielleicht von Ihrer letzten Lesereise an ihn erinnern, schien es äusserst peinlich zu sein, uns eine Absage zu erteilen, er lud uns sogar in eines der teuersten Lokale ein, aber letztendlich …«
»Ja gut, Japan«, entgegnete ich, weil ich nicht wusste, was ich sonst sagen sollte. Dabei besass ich in Japan doch die glühendsten Fans. »Und wieso haben Sie in diesen Ländern nicht mit anderen Verlagen verhandelt? Es gibt welche, die sich um mich reissen würden«, brach es aus mir heraus.
»Lesen Sie auch mal Kritiken, Herr Kaiser?« Ein leicht spöttisches Lächeln war auf Ihrem Gesicht erschienen, ein Ausdruck, den ich bei ihr bislang nicht kannte. Bis dahin hatte sie sich mir gegenüber, der ich als Goldesel des Verlags galt, stets äusserst zuvorkommend gezeigt.
Ich wischte ihre Frage mit einer Handbewegung beiseite. Dass Literaturkritiker meine Kriminalromane als Schund abtaten, war ja nun wirklich kein Geheimnis. Viel Feind viel Ehr, redete ich mir stets ein. Allerdings hatte ich kürzlich eine Buchhandlung besucht und eine Buchhändlerin beobachtet, die gerade dabei war, einen Stoss Harte Lügen von einem Büchertisch auf ein Transportwägelchen umzustapeln und sich dabei bei einer Kollegin mit lauter Stimme erkundigte, ob der Kram ins Altpapier sollte oder an den Verlag zurückgehe.
»Frankreich ist noch dabei«, hörte ich Frau Stockhausen sagen.
»Na sehen Sie.«
Erneut dieses spöttische Lächeln. »Wissen Sie, was die für die Lizenz bezahlt haben?« Sie drehte sich zum Panoramafenster hin, durch das eine gleissende Nachmittagssonne hereinschien. »Rien de rien. Zudem handelten sie sich eine höheren Anteil am Gewinn aus, und verlangten, dass wir jedes unverkaufte Exemplar zurücknehmen müssen. Sie halsten uns sogar die Marketingkosten auf. Dabei waren wir es bis dahin gewesen, die die Bedingungen diktierten. Wissen Sie, wieso Theron darauf eingegangen ist?«
Ich starrte wieder auf die Unterlagen, wo ich die erbärmlichen Verkaufszahlen für Frankreich entdeckte.
Sie drehte sich wieder zu mir herum. »Ich auch nicht. Aber das kann Ihnen Theron ja selber sagen, sobald es ihm wieder besser geht.«
Als wären ihre Worte durch Theron Chronsteins Bürotür gedrungen, ging diese plötzlich auf. Der Mann, der heraustrat, war mir völlig unbekannt. Der stämmige Kerl marschierte in langen Schritten an uns vorbei, als gäbe es uns nicht. Hätte ich mich nicht in einem alten, ehrwürdigen Verlagshaus befunden, dann hätte ich bei diesem Hünen mit dem rasierten Schädel und dem kleinen Pferdeschwanz im Nacken auf einen russischen Söldner getippt.
»Neuer Mitarbeiter?«, fragte ich, kaum dass er durch die Glastür gegangen war, und sich im Flur wartend vor die Lifttüre gestellt hatte.
Frau Stockhausen, die auf einmal in Gedanken woanders zu sein schien und an einem Knopf ihres Chanel-Kostüms herumfingerte, hob abwesend den Kopf und fragte, ob ich etwas gesagt hätte.
»Nun … dann will ich nicht länger stören«, sagte ich. »Darf ich diese Unterlagen mitnehmen?«
»Ich bitte darum«, erwiderte sie und schien wieder ganz bei der Sache zu sein. »Ist Ihr nächster Roman schon unterwegs?«, fragte sie nun.
»Ich gehe damit schwanger«, log ich.
Sie schenkte mir ein Sphinxlächeln.
»Richten Sie Theron aus, ich wünsche ihm gute Besserung«, sagte ich.
»Das werde ich«, versicherte sie mir.
»Tirili, Frau Stockhausen«, warf ich ihr zu, als ich bereits bei der Glastüre stand.
»Tirila«, zwitscherte sie zurück.
Die fröhlichen Gesichter auf der Strasse gingen mir sofort auf die Nerven. Ich betrat die erste Bar, die mir schäbig genug vorkam und setzte mich an den Tresen. Schon ging es mir besser.
»Ja?« Die Stimme war warm und tief und die überaus attraktive Barfrau mit den langen schwarzen Haaren stützte sich mir gegenüber lasziv auf den Tresen und legte ihr schmales Gesicht zwischen die Hände. Sie trug ein schwarzes ärmelloses Shirt, auf dem in Grossbuchstaben GÖRE geschrieben stand, der Name der Bar.
»Stange«, sagte ich. Sie stand bereits am Zapfhahn, als ich die Bestellung änderte und einen Armagnac bestellte, einen doppelten.
Es war kurz nach vier und das Lokal noch leer – fast zumindest. Am anderen Ende des Tresens sass ein Mann in meinem Alter vor einem Glas Rotwein, und es sah nicht so aus, als wäre es sein erstes. Er fixierte mich, als hätte ich sein Revier betreten. Ich schaute weg, der Typ roch nach Ärger.
Lesen Sie hier die ganze Geschichte
Foto von Laura Lugaresi auf Unsplash