Berlin – Schweden und zurück – von Uwe Schmidtke
schreibwerk berlin veröffentlich in unregelmäßigen Abständen Geschichten, die in den Kursen entstanden sind. Diese hier wurde in Online-Kurs Literarisches Schreiben entwickelt.
Berlin-Schweden und zurück. Kurzgeschichte von Uwe Schmidke
Uwe Schmitdke wurde 1965 in Eisenhüttenstadt, einer kleinen Stahlstadt im Osten Deutschlands geboren. Er ist verheiratet und lebt mit seiner Familie im Norden Deutschlands. Seine Leidenschaft, Geschichten zu erzählen, begann als kleiner Junge, ließ ihn seitdem nicht mehr los und wurde später auch von seinen drei Töchtern herausgefordert. (mehr über ihn lesen Sie am Ende des Textes)
Aufbruch
Hans wachte mit leicht dröhnendem Kopf auf. Um zwei. Der Sonntag war schon wieder halb vorbei. Eigentlich war es gut so. Er hatte sowieso keinen Plan. Seine Lieblingskneipe hatte sich wieder mal als Wurmloch erwiesen, in dem die Zeit anders verging als auf dem restlichen Planeten. So war er erst lange nach Mitternacht aus dem heimeligen Aquarium in die kalte Berliner Nacht getreten, um dann in seiner Höhle in einen unruhigen Schlaf zu fallen, bei dem die Biere in ihm weiterkicherten.Berlin
Hans setzte sich in seinem Bett auf und strich sich über sein stoppeliges Kinn. Dabei fiel sein Blick wieder auf die drei Schlafsäcke, die ungenutzt in der Ecke lagen. Und da war auch dieser Brief. Hans kannte die wenigen Zeilen auswendig. “Es tut uns leid. Wir haben beschlossen, dass Paul und Hanna in den Ferien nicht zu dir kommen werden. Wir sind gerade dabei, in unsere neue Familie etwas Ruhe einziehen zu lassen und wir denken, es wäre nicht gut für sie. …” Hans spürte wieder den Schrei in sich aufsteigen, der tief in ihm explodieren wollte.
Die Wohnung sah unaufgeräumt aus, hart an der Grenze zur Verwahrlosung. Überall lagen Sachen herum, die auf die Waschmaschine warteten. Die Kleidung von heute Nacht verströmte den typischen Geruch von kaltem Rauch und Bierdunst. Hans mochte sich selbst nicht.
So geht das nicht weiter, sagte er zu sich. In seinem Kopf reifte ein Entschluss, der schon lange hinter seiner Stirn darauf wartete, diese triefende Selbstmiteidslethargie zu vertreiben.
Was hielt ihn eigentlich? Sein Job? Hans verzog den Mund zu einem ironischen Lächeln. Außerdem stand ja sowieso noch sein gesamter Urlaub von diesem und der Rest vom letzten Jahr aus. Sein Tauchteam brauchte ihn jetzt nicht – und wie hatte Kevin gesagt? “Wird Zeit, dass du auch mal wieder was für dich machst.”
Er stand auf und ging ins Bad. Auf dem Weg kickte er einen der Schlafsäcke gegen die Wand. “Vielleicht brauche ich ja doch noch wenigstens einen von euch.” Berlin
Er duschte ausgiebig. Hans liebte es, das warme Wasser auf seinem Körper zu spüren und er hatte das Gefühl, einen Teil der Schlaffheit der letzten Tage mit abzuspülen. Geduscht, rasiert, dazu frische Sachen, so war das schon besser. Im Zimmer riss er das Fenster auf und ließ die frische, sommerliche Luft herein. Er atmete tief ein und aus und versuchte so, den letzten Rest Alkoholatem, der sich mit Zigarettengeschmack mischte, aus seiner Lunge zu vertreiben. Normalerweise rauchte er nicht und konnte sich gar nicht mehr richtig erinnern, wieso er in der Kneipe dann doch ein paar Zigaretten geraucht hatte.
Er stopfte die verbrauchten Sachen in einen Wäschekorb und räumte leere Flaschen und dreckiges Geschirr in die Küche. Sein kleiner Rucksack war schnell gepackt. Waschzeug, ein paar Wechselsachen und einen der drei Schlafsäcke, mehr brauchte er nicht. Nachdem er die Fenster wieder geschlossen hatte, ließ er kurz seinen Blick durch die Wohnung schweifen. Das musste reichen für heute. Er hatte keine Zeit, wenn er noch ein Stück schaffen wollte. Er fürchtete auch, seinen Schwung zu verlieren, wenn er jetzt nicht gleich aufbrach. Schließlich kannte er den Sog der Lethargie. Im Gehen zog er die abgewetzte Lederjacke an und freute sich über ihren vertrauten Geruch. Er griff nach dem Motorradhelm im Flur und seine Nase erinnerte sich sofort an die langen Fahrten, wenn die Sonne senkrecht auf dem Helm stand. Er hatte ihn lange nicht aufgehabt, zu lange. Das Krachen der alten Tür hinter ihm schien etwas Endgültiges zu haben. Dicht an die Hausmauer gedrängt stand die alte Touringmaschine, die er einem Freund für einen Hunderter abgekauft hatte, als der sie verschrotten wollte. Er hatte sie wieder neu aufgebaut und so konnte er sich trotz ihres Alters auf sie verlassen. Wie erwartet sprang sie mit einem tiefen Grollen sofort an. Hans wusste gar nicht, wann die Fähren nach Trelleborg fuhren, aber das würde er in Rostock sehen. Erst einmal los! Übermütig spielte er mit dem Gas und ließ den Motor aufheulen. Auf gehts! Berlin
Als er auf der Autobahn zügig die Stadt hinter sich ließ, freute er sich über das Gefühl, unterwegs zu sein. Er dachte an seine Kinder und wäre am liebsten geflogen, da es ihm jetzt nicht mehr schnell genug gehen konnte, sie wieder zu sehen. Wie hatte er es nur so lange ausgehalten? Hans hatte in diesem Moment das Gefühl, dass es nichts gab, das ihn davon abhalten könnte, sie wieder in den Arm zu nehmen. Er würde Mauern einreißen, wenn es nötig wäre. Da sollten so ein paar Kilometer und das bisschen Ostsee ihm auch nicht im Wege stehen. Berlin
Es war schon dunkel, als Hans auf das Hafengelände fuhr. Er war ewig nicht mehr hier gewesen. Doch er erkannte sofort das kleine Häuschen, das sein Scheinwerfer aus dem Dunkel schälte. Dort gab es die Fahrkarten und tatsächlich: ein Fenster war noch schwach erleuchtet. Hans fuhr dicht vor die Tür und stellte mit einem kurzen Ruck seine Maschine ab. Schon im Gehen nahm er seinen Helm ab und betrat das flache Gebäude.
“Na junger Mann, was vergessen?” Wie alt musste man eigentlich werden, um nicht mehr mit junger Mann angesprochen zu werden?
“Wann fährt die nächste Fähre nach Schweden?”
“Die fuhr gerade, junger Mann. Morgen wieder, halb zehn.”
Hans presste die Lippen zusammen. “Gut, dann eine Fahrkarte bitte.”
“Das Knatterding da draußen auch?”
“Ja, mit Motorrad.”
“52 Euro, junger Mann.”
Hans wühlte in seiner Brieftasche. Er hatte noch 90 Euro. Sein Konto war schon im Minus. Er zählte das Geld auf den Tisch. Unschlüssig betrachtete er den Fahrschein.
”Gibt es hier irgendwo eine billige Pension?”
“Die nächste ist in dem Dorf, durch das sie gefahren sind. Wenn sie vom Hafengelände runterkommen zwei Kilometer, gleich hinter dem Ortseingang. Ist auch billig, junger Mann.”
“Danke. Schönen Abend noch.”
Die Pension war der Alte Dorfkrug mit ein paar Zimmern zur Vermietung. Sieht nicht teuer aus, dachte Hans. Mit 38 Euro in der Brieftasche durfte es das auch nicht. Berlin
“35 Euro, Meister, und in bar bitte.”
“30”
“Wir sind doch hier nicht auf dem Basar.”
“Ich brauche schließlich noch was zu essen.”
Der dicke Wirt zog die Augenbrauen zusammen und musterte den groß gewachsenen Mann, der da angeblich mit knapp über 30 Euro in der Tasche unterwegs war und schüttelte ungläubig den Kopf.
“Na gut”, brummte er. Wahrscheinlich waren ihm die 30 Euro lieber als gar nichts.
“Wegen Frühstück muss ich ja dann wohl nicht fragen.”
“Richtig.”
Der Wirt legt den Zimmerschlüssel auf den Tresen und deutet auf die Treppe rechts von ihm. ”Eine Treppe, gleich die erste Tür.”
“Danke.”
Hans lag mit knurrendem Magen in seinem Zimmer. Dann stand er auf. Was zu trinken würde er für die paar Euro wohl noch bekommen.
Im Gastraum gab es den üblichen Stammtisch, an dem drei Männer saßen. Sie saßen dort mit ihren karierten Hemden und schweren Cordhosen und man konnte nicht genau erkennen, ob sie gerade vom Feld kamen oder immer so herumliefen. Die massigen Unterarme lagen schwer auf den Tischen, wie geerdet. Man sah, dass es zwischen ihnen nicht nötig war, viel zu reden. Sie waren einfach da und genossen ihr Feierabendbier. Hans stellte sich vor, dass ihre Arbeit für diesen Tag getan war, das Feld war bestellt, der Trecker gereinigt oder die Kühe gemolken. Zu Hause wartete die Frau mit dem Abendbrot auf sie.
Ganz hinten in der Ecke saß eine junge Frau allein an einem Tisch. Ihrem Aussehen nach gehörte sie nicht hierher, in diesen Dorfkrug. Aber gehörte er denn hierher? Sie hatte kurzes rotes Haar, das zornig in alle Richtungen abstand. Es war von einem leuchtenden Rot, wie es die Natur nicht kannte. Ein braunes Shirt mit der Aufschrift Zicke verhüllte den Körper. Die spitzen Schultern ließen erahnen, dass sie sehr schlank war. Sie blickte auf, als Hans den Raum betrat und beobachtete ihn aus schmalen Augen. Dabei massierte sie mit zwei ihrer schlanken Finger, in einer wohl unbewussten Geste, den Bereich hinter ihrem linken Ohr. Sie waren zwei, die nicht hierher gehörten.
Hans setzte sich an einen der freien Tische und bestellte bei dem Wirt, der ihm auch das Zimmer vermietet hatte, ein Bier. Berlin
“Ich denke, du hast nichts mehr, Meister.” Hier in seiner Schankstube war er unvermittelt zum Du übergegangen.
“Dafür reicht’s noch.”
“Ja, dafür reicht’s immer”, antwortete der Wirt brummig mit einem schiefen Lächeln.
Von seinem Platz aus sah Hans etwas Vertrautes, das er beim Reinkommen nicht hatte sehen können. In der Ecke stand ein Klavier. Wahrscheinlich wurde es bei Dorffesten benutzt oder es war einfach irgendwie dort gestrandet. Hans ging zu dem Instrument und strich über das dunkle Holz. Es schien sogar ein gutes Stück zu sein. Wie es wohl seinen Platz in dieser Kneipe gefunden haben mochte? Er öffnete den Deckel, der die Tasten verbarg und strich über das glatte Elfenbein. Seine Finger erinnerten sich sofort. Er hatte seit seinem sechsten Lebensjahr gespielt und besonders die Jahre bei seinem Musiklehrer hatten sich gelohnt. Der hatte sein Talent gesehen und es gefördert, wie er nur konnte. Für ihn stand fest, dass Hans einmal ein großer Pianist werden würde. Aber die Brutalität seiner dunkelsten Zeit und dann die Lethargie der letzten Jahre hatten diese Karriere doppelt beendet. Durch jugendliche Dummheit war er in die Mühlen einer mörderischen Ausbildung als Kampfschwimmer, einer Eliteeinheit der DDR, geraten. Diese vierjährige, abstumpfende Aggressivität vertrug sich damals schlecht mit seinem sonst eher träumerischen Wesen und seinem musikalischen Talent.
Wie unter Zwang setzte er sich auf den schmalen Musikschemel und begann zu spielen. Noch ehe der Kopf es wusste, erinnerten sich schon seine Hände. Er spürte, wie die Musik ihn durchströmte. Er saß wieder im Zimmer seines Lehrers und es gab nur die Musik. Im Geiste sah er das zufriedene Nicken des alten Mannes, der mit geschlossenen Augen lauschte. Die Musik glitt durch ihn hindurch wie ein heilender Strom. Traurig und kraftvoll zugleich. „In alles, was du spielst, legst du auch ein Stück von dir“, hatte sein Lehrer gesagt. „So verschmelzen die Gedanken des Komponisten und du selbst zu etwas Neuem. Erst dann wird es große Kunst. Du bist dazu fähig. Ich höre es.“
Und Hans spielte. Er spielte die Jahre, in denen er fast zerbrochen wäre, die Bitterkeit der letzten Zeit, seine Einsamkeit, sein Versagen und seinen Selbsthass, die Liebe und die Sehnsucht nach seinen Kindern.
Berlin
Als das Stück zu Ende war, hob er den Kopf. Langsam kehrte er wieder zurück in den Gastraum. Es war, als wäre er auf einer weiten Reise gewesen. Es war mucksmäuschenstill. Dann stand einer der drei vom Stammtisch auf. Er kramte aus seiner Hosentasche einen Fünfeuroschein. “Kannst du auch das, wie heißt das noch, für Amelie oder so?” Hans schaute erstaunt auf den Schein und nickte. Behutsam fing er an und besann sich beim Spielen auf die Melodie. Als er fertig war, klatschte der Mann. “Mann, schade dass meine Frau nicht hier ist. Na, die würde sich freuen. Dann strich er sich verstohlen über beide Augen und Hans war es, als würden sie nass glitzern.” “Seine Frau ist letztes Jahr gestorben, Krebs”, erklärte ein Anderer am Stammtisch. “Ein Jahr hat sie sich gequält, wurde immer weniger und Schorsch konnte nur zusehen, musste mit zusehen. Hans spielte noch ein Stück, von dem er glaubte, es hätte seiner Frau auch gefallen. Der Mann schaute lächelnd vor sich hin und seine Augen begannen wieder zu glitzern. Doch dieses Mal ließ er es zu.” “Komm zu uns. Du bist eingeladen”, winkten sie ihn heran, nachdem er geendet hatte. Als Hans sich an den Tisch setzte, knurrte sein Magen.
“He Max, bring doch mal deine berühmten Buletten. Unser Freund hat Hunger. Soll doch wohl keiner sagen, wir würden unsere Gäste verhungern lassen.” Hans wollte erst protestieren. “Nun lass man gut sein. Du hast dem Schorschi echt ne Freude gemacht. Ich hätte gar nicht gedacht, dass der noch lächeln kann. So versteinert, wie der da am Grab stand. Dat werde ich nie vergessen. Keine Träne hat der geweint. Nur immer gestarrt.”
Die ganze Zeit beobachtete das Mädchen in der Ecke aufmerksam die Szene.
Sura
Am nächsten Morgen stand für Hans schon ein Frühstück bereit. “Geht aufs Haus”, murmelte der Wirt.
Als Hans nach draußen trat, stand neben seiner Maschine das Mädchen mit den roten Haaren und dem Zickenpullover. Er ging langsam darauf zu. Berlin
“Morgen.”
“Morgen.”
Die beiden standen sich gegenüber und das Mädchen musterte ihn stumm. Sie stand Hans im Weg, wenn er die Maschine abbocken wollte.
“Ist irgendwas?”
“Nimmst du mich mit?”
Hans zog die Stirn zusammen und musterte das Mädchen. “Wohin denn?”
“Na da, wo du hinfährst, wohin sonst.”
“Aha, und wohin fahre ich?”
“Du willst doch sicher auf die Fähre nach Schweden. Woanders hin geht’s ja hier nicht. Es sei denn, dein Motorrad kann schwimmen.”
“Stimmt. Und was willst du in Schweden? Bist du abgehauen oder so was?”
“Was macht man in Schweden? Urlaub machen, Elche kucken. Blaubeeren pflücken.”
“Bist du überhaupt schon achtzehn?”
Das Mädchen verzog grinsend den Mund. „Mann Alter, bist du bei der Kriminalpolizei oder was? Ich hab dich nur gefragt, ob du mich mitnehmen kannst.”
So schnell geht das, dachte Hans. Gestern noch der junge Mann und heute, Alter.
Er zuckte die Schulter. “Na gut, dann hol mal dein Gepäck.”
“Hab schon”, und sie hielt einen kleinen Stadtrucksack hoch.
Hans nickte grinsend. “Mit leichtem Gepäck reist es sich leichter.”
“Genau. Du scheinst deinen Schrankkoffer ja auch zu Hause gelassen zu haben.”
Hans nickte und holte aus einem Seitenfach einen flachen alten Helm, den er für alle Fälle immer dabei hatte. Dann stieg er auf die Maschine und ließ den Motor an. Das tiefe blubbernde Geräusch ließ ihn gleich wieder eine Art Reiselust verspüren.
“Wie heißt du eigentlich?”
“Sura.”
“Hans.”
“Schön, dann hätten wir das auch.”
Das Mädchen schaute unschlüssig den weißen Helm an. “Was’n dass? Hast wohl’n Straußenei abgesägt.”
“Setz auf oder bleib hier.”
Achselzuckend setzte das Mädchen den Helm auf und stieg auf den Rücksitz. Sie hielt sich an ihm fest, als hätte sie nie etwas anderes getan.
Na wenigstens wird sie mir nicht runterfallen, dachte Hans.
Auf der Fähre
Hans hielt das Motorrad vor dem flachen Häuschen am Hafen und drehte sich zu Sura um. “Ich schätze, du hast noch keine Fahrkarte?”
“Ein Mitdenker. Stimmt.”
Gemeinsam betraten sie das Häuschen.
“Na, junger Mann, kommt Ihre Tochter nun auch mit?” Jetzt bin ich doch wieder ein junger Mann, aber mit einer volljährigen Tochter, dachte Hans. Er machte sich nicht die Mühe, das Missverständnis zu korrigieren und schaute nur Sura auffordernd an. Die grinste und schien Gefallen daran zu finden.
“Mein Papa wollte mich ja erst nicht mitnehmen.”
“Na sowas”, ereiferte sich die Frau. “Wollte wohl lieber alleine losziehen, der Herr. Machste richtig Mädchen, Vater ist man immer, ein Leben lang. Na dann, ein Fußgängerticket macht 30 Euro, junger Mann.”
Hans rührte sich nicht und schaute, jetzt belustigt, Sura weiter auffordernd an. Sura kramte stirnrunzelnd in ihrem Portemonnaie.
“Wie jetzt, jetzt muss wohl das Mädchen von ihrem Taschengeld bezahlen, damit es bei Papa mit darf? So seinse mal nicht so knausrig mit dem Mädel!”, ereiferte sich die Frau.
“Ist schon gut. Das hat schon seine Richtigkeit so.” Damit legt Sura lächelnd das Geld auf den Tisch.
“Na, geht mich ja nischt an. Aber richtig finde ich das nich.” Und damit bedachte sie Hans mit einem strafenden Blick. Der lächelte nur freundlich zurück. “Na dann, schönen Tag noch!”
In der Schlange vor der Fähre dachte Hans an die Urlaube, die sie in Schweden verbracht hatten, als die Kinder noch ganz klein und begeistert von dem großem Schiff waren. Als sie das Motorrad verladen hatten, sagte Sura knapp: “Komm!” Hans war so überrascht, dass er ihr einfach folgte. Sie gingen auf das oberste Verdeck und schauten zu, wie die letzten Autos einfuhren und sich die große Verladeklappe schloss. Dann fuhr das Schiff aus dem Hafen und das Land wurde langsam zu einem Strich am Horizont. Hans freute sich an der Weite des Meeres und spürte, wie ihm der Wind durch das Haar fuhr und seine Gedanken lichtete. Berlin
“Das war eine gute Idee, gleich hier hoch zu gehen. Mit meiner Frau sind wir immer zu den Sitzen gelaufen, um einen guten Platz zu ergattern.”
“Das haben wir immer gemacht.” Sura stockte. “Mein Vater und ich.”
Hans hatte das Stocken bemerkt. “Was ist mit deinem Vater?”
“Also doch bei der Kripo. Der ist Negerkönig im Takkatukkaland – und ich fahre ihm nach.” Sura schaute Hans an und sagte: “Der Ausblick ist zwar schön hier. Aber ich könnte jetzt trotzdem mal was essen.”
“Na dann geh ruhig.”
“Kommst du nicht mit? Dein Frühstück ist ja genauso lange her.”
“Nee, nicht auf der Fähre.”
Sura lachte schallend. “Oh Mann, der arme Ritter der Landstraße. Sag jetzt nicht, du hast noch weniger Kohle als ich. Also bei mir reicht’s auch noch für zwei Brötchen. Ich gebe dir eins ab, aber ohne Belag.”
Hans schaute Sura an. “Danke, das mit dem Geld wird schon wieder und ich möchte dir deine letzten Euros nicht wegfuttern.”
“Klar, ist ja bald Monatsende. Die zwei Wochen geht’s auch mal ohne. Essen ist sowieso überbewertet. – Also hab dich nicht so. Ich bin ja schließlich auch mitgefahren.” Berlin
Ohne Hans’ Reaktion abzuwarten, ging Sura voraus zu der Schiffskantine und Hans wunderte sich, dass er an diesem Tag schon zum zweiten Mal diesem rothaarigen Mädchen folgte. Auf dem Weg zur Kantine kamen sie an dem teuren Schiffsrestaurant vorbei. Sura blieb plötzlich stehen. “Schau mal da!” Ihre Hand zeigte direkt auf ein schönes Klavier, das in dem Restaurant stand. “Was in der Dorfkneipe geklappt hat, sollte bei den gelangweilten Reisenden doch noch besser funktionieren.”
Hans schaute sie fragend an.
“Wie? Das war wohl das erste Mal so auf die Art?”
Hans begriff immer noch nichts. “Na, ich meine, spielen – für Geld.”
Hans schaute über ihren ausgestreckten Arm auf das Klavier und begriff endlich. “Nein, ich kann das nicht.”
“Ja, das habe ich gesehen. Du hast sogar die pommerschen Bauern erweicht. Da wickelst du die Touristen nach Schweden auf Butterfahrt um deinen kleinen Finger.”
Hans schüttelte den Kopf.
“Ok, wenn der Herr sich lieber von meinem letzten Geld ein trockenes Brötchen gönnt. Ich gebe ja gern. Ok, ok.”
Hans atmete tief ein und aus. “Also gut. Aber wir fragen vorher.”
Der Restaurantleiter hatte nichts dagegen. Er freute sich sogar, dass das Klavier endlich mal benutzt wurde. Wahrscheinlich hoffte er, dadurch sein leeres Restaurant etwas zu füllen. Hans setzte sich und strich behutsam über die Tasten. Es schien sogar ganz gut gestimmt zu sein. Als seine Finger anfingen zu spielen, nahm die Musik ihn wieder mit sich fort. Sura stand im Hintergrund und lächelte.
Nach einigen Stücken klatschte plötzlich ein einzelner Mann lautstark in die Hände und ging strahlend auf Hans zu. “Bravo! Wunderbar! Ich bitte Sie, seien Sie für einen Moment mein Gast!” Hans schaute unwillkürlich zu Sura. Die breitete die Arme aus in einer Geste, na bitte klappt doch. “Ihre Freundin ist natürlich auch mein Gast”, versicherte der Musikfreund mit einem Blick auf Sura. Sie setzten sich zu dem Herrn an den Tisch.
“Bitte, was trinken Sie? Sie würden mir eine große Freude machen, wenn ich Sie auch zum Essen einladen darf. Ich hasse es, alleine zu essen, und leider bin ich allein unterwegs.”
Hans zuckte mit den Schultern und Sura griff nach der Tageskarte. “Vielen Dank für die Einladung. Dann wollen wir Ihnen mal die Freude machen.”
Nachdem sie bestellt und mit einem guten Wein angestoßen hatten, rückte der fremde Mann mit der Sprache raus. “Wissen Sie, es stimmt schon, dass ich nicht gern alleine esse. Aber ich habe noch eine große Bitte.” Hans und Sura schauten den Mann stirnrunzelnd an. Da war wohl die Einladung doch nicht so selbstlos und jetzt kam die Rechnung.
“Ich fahre zu einem Geburtstag. Meine Mam, Zieh-Mama sozusagen. Sie hat mich damals aufgenommen. Ich bin bei ihr aufgewachsen. Sie wird neunzig, wissen sie, neunzig. Da kommt man doch nicht einfach mit ein paar Blumen und Konfekt.” Der Mann strich sich über das schon ergraute Haar. Und dann sprach er weiter, fast wie zu sich selbst. “Ich habe lange nicht an sie gedacht. Arbeit, Familie, Geld, wie es so ist. Alles ist immer wichtiger, drängender.” Er schaute die beiden wie um Zustimmung bittend an. “Und jetzt sitze ich hier auf dieser Fähre – mit Blumen und Konfekt.” Wieder strich er sich über den Kopf. “Ohne sie gäbe es mich nicht und ich …? Als ich Sie spielen gehört habe, war plötzlich alles wieder da. Ihre Güte. Ich sehe wieder ihre Augen vor mir. Sie ist ein unglaublicher Mensch, wissen Sie.” Er machte eine Pause und schaute Hans forschend an. “Jetzt habe ich eine Idee zu einem Geschenk – und dazu brauche ich sie. Wenigstens das möchte ihr mitbringen. Dass ich mich daran erinnere – durch Sie.”
Hans schaute kurz rüber zu Sura, die den Mann mit großen Augen ansah und sich wieder, in der Geste, die er bei ihr schon in der Kneipe gesehen hatte, den Kopf hinter dem linken Ohr massierte.
“Damals hat sie mir immer ein Lied vorgesungen.” Der Mann schaute Hans direkt ins Gesicht. “Ich möchte, dass Sie es auf ihrem Geburtstag spielen. Bitte.” Ein kurzes Schweigen entstand. “Es ist auch ganz in der Nähe vom Hafen, kein großer Umweg.”
“Klar machen wir das. Wir kommen gern”, beendete Sura das kurze Schweigen, in dem der Mann gespannt auf eine Antwort wartete.
Hans schaute Sura überrascht an. “Wir kommen gern?”
Der Mann ergriff Suras Hände. “Vielen, vielen Dank. Sie wissen gar nicht, was für eine Freude Sie mir damit machen. Entschuldigen Sie bitte. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Jakob Silberstein.” Berlin
“Sura, Sura Schwarz”, und mit einen Geste zu Hans: „Und das ist Hans, Hans …”
“Hans Falke”, ergänzte er, aus seiner Verwunderung erwachend, wie selbstverständlich er hier von diesem rothaarigen Mädchen verkauft wurde. “Und das Lied”?
„Ich kann es Ihnen vorsingen.”
Hans nickte, “Gut”, und setzte sich ans Klavier.
Jakob Silberstein sang mit überraschend weicher Stimmer. Es war, als würde er sich wieder in den kleinen Jungen verwandeln. Hans sah ihn in seinem Bett liegen, warm, geborgen und geliebt von der Frau, die ihm dieses Lied sang. Es war die schwedische Version von Funkel, funkel kleiner Stern.
„Blinka lilla stjärna där
hur jag undrar vad du är
Fjärran lockar du min syn
lik en diamant i skyn
Blinka lilla stjärna där
hur jag undrar vad du är“
Sura hing an seinen Lippen und bat ihn, den Text mehrmals zu wiederholen, bis sie ihn selber leise mitsingen konnte.
Der Geburtstag
Nachdem sie in Trelleborg angekommen waren, folgten sie dem schweren Mercedes ihres neuen Bekannten. Sura hatte das Angebot umzusteigen dankend abgelehnt. “Danke, ich fahre gern Motorrad.” Und mit einem lächelnden Seitenblick auf Hans, hatte sie hinzugefügt: “Vielleicht wenn es unterwegs regnet.”
Sie fuhren auf das Gelände eines typisch schwedischen Anwesens mit einem gelb gestrichenen Haupthaus und einem roten Schuppen. Auch die schwedische Flagge war da. Sie hielten auf einem knirschenden Kiesweg. Auf einer großen Wiese direkt vor dem gelb strahlenden Haus waren lange, weiß gedeckte Tafeln aufgestellt. Es war eine Szene wie aus einem Film. Anscheinend war das Fest schon voll im Gange. Auf den Tischen standen Kuchen und Kaffeegeschirr. Zwischen den Erwachsenen, die plaudernd an den Tischen saßen, sprangen Kinder jeden Alters herum und holten sich zwischendurch ein Stück Kuchen, das sie sich in die verschmierten Münder schoben. An einem Ende der Tafel saß eine alte Frau mit schlohweißem Haar und betrachtete lächelnd die sie umgebende Szenerie. Jakob Silberstein stieg aus seinem schwarzen Wagen und schaute erst einmal. Wieder schien ihn die Erinnerung zu überschwemmen. Sura und Hans warteten geduldig und freuten sich über dieses Bild, das sie willkommen zu heißen schien. Nach einer Weile wendete sich Jakob den beiden zu und winkte ihnen, ihm zu folgen. Hans sah, wie in dem Gesicht der alten Frau ein freudiges Erkennen aufleuchtete, als Jakob auf sie zutrat. Er bückte sich tief und umarmte die alte Frau, die ihn ihrerseits fest umschloss. Dann nahm sie sein Gesicht in ihre Hände, schaute ihm in die Augen und sagte leise etwas auf Schwedisch zu ihm. Danach nahm sie ihn wieder in die Arme und drückte ihn fest an sich.
Als sie ihn endlich wieder frei ließ, wendete sich Jakob den beiden zu und wechselte wieder zu Deutsch. “Das sind Sura und Hans. Ich habe sie auf der Fähre kennengelernt.” Mehr brauchte es anscheinend nicht. “Willkommen! Ich bin Greta”, sagte die Frau mit leicht schwedischem Akzent und wies auf die lange Tafel. Die beiden setzten sich und fühlten sich schon nach kurzer Zeit, als würden sie dazu gehören. Es war eine gemischte Gesellschaft, die sie schnell aufnahm. Die gesamte Gemeinde schien gekommen zu sein. Aber es waren auch Menschen aus anderen Teilen Schwedens und auch aus anderen Ländern da, die eine enge Beziehung zu der alten Dame hatten. Berlin
Nach einer Weile trugen vier junge Leute ein Klavier auf die Terrasse des Hauses. Jakob kam auf Hans zu. “Können wir jetzt?” Hans nickte. “Gern.” Er setzte sich an das Klavier und machte sich wie beiläufig, spielerisch mit den Tasten und dem Klang vertraut. Ein bequemer Stuhl wurde in die Nähe des Klaviers gestellt. Jakob Silberstein führte Greta dorthin. Inzwischen hatten auch die meisten anderen Gäste gemerkt, dass auf der Terrasse etwas passierte und umringten stehend das Klavier und die alte Dame auf ihrem Stuhl. Unmerklich war Sura neben Hans getreten. Hans schaute erstaunt auf und Sura nickte ihm lächelnd zu. Als er spielte, begann Sura mit einer kraftvollen Stimme zu singen, die man diesem schmalen Körper nicht zugetraut hätte. So wehte dieses einfache und so schöne Lied getragen von ihrer Stimme über die Wiese
„Blinka lilla stjärna där
hur jag undrar vad du är
Fjärran lockar du min syn
lik en diamant i skyn
Blinka lilla stjärna där
hur jag undrar vad du är
…“
Sie sang das Lied, deren schwedische Version sie beide erst auf der Fähre gelernt hatten, als wäre es ihr seit Jahren vertraut. Bei den ersten Tönen ergriff die alte Frau Jakobs Hand und lächelte ihn dankbar an. Alle Gespräche waren verstummt und die letzten Gäste kamen wie von einem Magnet angezogen zur Terrasse. Suras Stimme klang hell und klar über die Wiese. Hans merkte sofort, dass Sura nicht nur eine schöne Stimme hatte, sondern auch singen konnte und ihre Stimme und die Töne des Klaviers fanden harmonisch zusammen.
Die Gäste waren schon lange gegangen und die alte Dame und Jakob Silberstein schliefen sicher schon. Sura saß alleine auf einem der Gartenstühle auf der Terrasse und schaute in den Sternenhimmel. Hans schob einen der bequemen Stühle neben sie und setzte sich dazu. “Du hast mir gar nicht erzählt, dass du singen kannst.”
Sura wendete ihren Blick von dem klarem Sternenhimmel zu Hans. “Ich kann mich nicht erinnern, dass du mich gefragt hättest.”
Hans schmunzelte, “Stimmt auch wieder.”
Gemeinsam schauten sie jetzt nach oben. “Sowas sieht man in Berlin gar nicht”, sagte Hans.
“In Meckpom schon”, antwortete Sura. Sura schaute Hans an. “Ich hätte auch nicht gedacht, dass ich so bald wieder singe. Mir ist eigentlich nicht so danach.”
Hans wartete, ob sie von sich aus weitererzählte.
“Hast du die Augen der alten Frau gesehen? Wie sie diesen Jakob angesehen hat. Und dieser Jakob Silberstein kommt da auf die Schnelle mit seinen Blumen und Konfekt angereist. Ich wette, die hat auch noch die Sekretärin besorgt. Frau Rottenmüller, ich fahre zu einem Geburtstag. Das Übliche bitte, ahmte Sura Jakobs Stimme nach.
Hans musste lachen.
“Der hat doch die ganze Zeit nicht einmal an sie gedacht. War nur mit Kohlemachen beschäftigt. Raffe, schaffe, Häusle baue.” Sura schnaubte empört. Hans lachte wieder.
“Aber schließlich hat er uns gebeten, für sie zu singen.”
“Ja, auf der Fähre. Als er gerade nichts anderes zu tun hatte. Wahrscheinlich gab es da keine Internetverbindung, um seine Aktien zu verfolgen. Und dann deine Klaviermusik. Da hat er seinen Rührseligen bekommen.”
“Immerhin. Etwas war da wohl noch in ihm.”
Sura schaute Hans zornig an. “Klar, Ihr Alten haltet da zusammen. Es gibt ja immer so viel Wichtiges zu tun, dass man da schon mal die alte Frau vergisst, die einem mal den Arsch gerettet hat und von der man auch noch geliebt wird.”
Hans verteidigte sich nicht. “Ja, vielleicht kenne ich das sogar, dass man den Blick für die wirklich wichtigen Dinge verliert.”
Sura schaute Hans an. “Jetzt kein Selbstmitleid, sonst kriege ich das Kotzen.”
“Keine Angst. Davon hatte ich ausreichen in der letzten Zeit.”
“Wovon? Selbstmitleid oder Kotzen?”
“Beides.”
Jetzt war es Sura, die lachen musste. “Wundert mich jetzt nicht. Wie du da so ohne Kohle mit deinem Motorrad durch die Lande fährst und kleine Mädchen aufgabelst.”
“He, wer hat sich denn hier aufgedrängt?”
“Na ja, setzt sich da mit seinem Klavier in die Kneipe und spielt den Rattenfänger von Meckpom. Sura legte wieder den Kopf in den Nacken und schaute in den Himmel.
“Wo willst du eigentlich hin?”
“Und warum sprichst du fremde Männer an und reist alleine durch Schweden?”
“Ich habe zuerst gefragt”, antwortete Sura.
“Ok. Ich möchte meine Kinder besuchen.”
“Schön. Hast du zwei kleine Schweden als Kinder?”
“Meine Ex-Frau ist mit ihnen hierher gezogen und seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen. Eigentlich wollte ich die Ferien mit ihnen verbringen. Aber meine Ex hat was dagegen. ”
Sura schaute jetzt Hans prüfend an. “Dass so viele Eltern ihren Krieg über die Köpfe der Kinder austragen müssen. Das ist ziemlich bescheuert.”
“Ja, das ist es. Das ist es wirklich. Dabei möchte ich einfach nur weiter ihr Vater sein, für sie da sein, verstehst du?”
“Wie lange hast du sie jetzt nicht gesehen?”
“Über ein halbes Jahr.”
“Na dann wird’s ja Zeit, dass du deinen Hintern aufschwingst.”
Hans nickte. “Ich habe Angst, dass es schief geht. Vielleicht wollen sie mich ja wirklich nicht sehen? Vielleicht ist es ja wirklich besser, sie in ihrer neuen Welt in Ruhe zu lassen?”
“Scheiße Mann! Ihr zwei habt euch getrennt, nicht die Kinder und jetzt trennt ihr mal so einfach die Kinder mit von ihrem Vater. Mann, Mann. Klar brauchen sie dich. Fahr hin oder ich binde dich an dein blödes Motorrad und bringe dich hin. Was für eine Affenscheiße. Vielleicht wollen sie mich ja nicht mehr sehen. Vielleicht ist es ja besser so.”
“Ja, ja. Ist ja gut. Ich habe verstanden.”
“Na wenigstens was. Der Herr ist scheinbar lernfähig.”
Hans schaute Sura prüfend an. “Aber jetzt zu meiner Frage. Nur wegen der Blaubeeren und Elche bist du doch wohl auch nicht unterwegs. Obwohl, ein bisschen siehst du ja aus wie Pippi Langstrumpf.”
Sura stand auf und schaute an sich herunter. “Siehst du hier irgendwo lange Strümpfe”
“Nee, aber feuerrote Haare und ein zorniges Mädchen.”
“Warum nicht Schweden? Hier gibt es tatsächlich richtige Blaubeerfelder im Wald.”
“Klar. Wenn man so richtig Heißhunger hat auf Blaubeeren – ab nach Schweden. Und warum wolltest du nicht mehr singen, wegen der Elche? ”
“Hä, wegen der Elche? Weil ich scheiße singe. Hast du doch gehört. Kann man doch niemanden zumuten.”
“Ja, das habe ich gehört. Eine Stimme wie eine Kreissäge und den Ton halten kannst du auch nicht.”
“Siehst du! Und da fragst du noch. Warum hast du eigentlich keine Kohle als erwachsener Mensch? Bist du eine verkrachter Künstler oder so was?”
Hans lächelte. “Gut abgelenkt. Nein, ich bin Hausmeister. Da verdient man nicht viel, und als es ums Finanzielle ging bei der Scheidung, habe ich bei allem Ja und Amen gesagt, weil ich dachte, dann finden wir wenigstens eine Einigung zu den Kindern.”
“Der Gutmensch. So groß und macht sich andauernd klein. Hat ja super geklappt der Plan.”
“Jo.”
“Hausmeister! So mit blauer Schürze und dickem Schlüsselbund? Und wenn die kleinen Jungs auf’m Klo rauchen, scheuchst du sie raus und rennst ihnen fluchend nach, kriegst die Bengels aber nie?” Sura schaute Hans musternd an. “Obwohl, deine lange Beine sind unfair. Du brauchst auch noch einen Bauch.”
Hans grinste nur. “Was ist denn nun mit dir? Warum ziehst du hier rum und wolltest nicht mehr singen?”
“Mann, Mann, Kommissare und Hausmeister, alle gleich. Immer wollense alles wissen. Schweden gefällt mir wirklich.”
Hans schaute Sura nachdenklich an. “Ok.”
Dann schauten die beiden wieder nach oben und freuten sich über die sternenklare Nacht. Hans streckte seinen rechten Arm zum Himmel. “Kuck mal, man kann richtig die Milchstraße sehen.”
“Wie? Man kann die Milchstraße sehen?”, fragte Sura verständnislos.
“Na dieser weiße Streifen, wo so viele Sterne zusammen sind. Das ist unsere Galaxie und wir sind mittendrin.”
“So klein.”
“Ja und wir machen uns so kiebig mit unseren Problemchen.”
“Jetzt wird aus dem Motorradfahrer und Klavierspieler noch ein Philosoph. – Aber ja, irgendwie finde ich es gerade tröstlich.”
Hans wollte gerade den Mund zu einer weiteren Frage aufmachen.
“Nein.”
“Ok.” Hans klappte den Mund wieder zu und schaute nach oben.
Am Morgen verabschiedeten sich beide von Greta. Sie schloss Sura fest in ihre Arme. “Vielen Dank. Du hast mir eine große Freude gemacht. So schön klang es bei mir wahrscheinlich nie.”
“Sicher besser. Wenn Sie gesungen haben, hat sich Jakob bestimmt sehr geborgen gefühlt.”
Die alte Frau lächelte und schaute Sura mit ihren wachen, freundlichen Augen direkt an. “Pass auf dich auf Mädchen. Und wenn du ein Dach, ein Bett und etwas Ruhe brauchst, das kannst du hier immer finden.” Sura schluckte und lächelte. “Danke. Ich werde es mir merken.”
Dann drehte Sura sich zu Jakob um. “Und Sie? Jetzt schnell wieder zurück zu den Aktien?”
“Nein, ich bleibe noch eine Weile. Danke auch von mir.”
“Keine Ursache, war ja auch nicht für Sie.” Sura nickte, drehte sich um und stapfte energisch davon in Richtung Motorrad.
Als Hans sich zu der alten Frau hinunterbeugte, schaute sie ihm aufmerksam in die Augen. “Danke, Klavierspieler. Pass auf das Mädchen auf. Sie sieht so traurig aus.”
“Wohl eher zornig.”
Die Frau schüttelte den Kopf. “Der Zorn ist der Igelpanzer gegen unsere Traurigkeit und unsere Furcht.”
Hans nickte. “Ich versuche es – so weit sie mich lässt.”
Jakob steckte Hans beim Abschied einen Umschlag zu. Der wollte abwehren. “Schon gut, Sie haben mir eine große Freude gemacht und mich an etwas Wichtiges erinnert. Ich würde mich freuen, wenn sie einen kleinen Dank annehmen.”
Sura stand am Motorrad und schaute Hans fordernd an. “Kann’s jetzt mal losgehen? Ich denke, du willst deine Kinder dieses Jahr noch sehen.” Hans lächelte nur und stülpte sich den Helm über. Als er auf der Maschine saß, packte ihn wieder die Reiselust und diesmal freute er sich über die Arme, die sich an ihm festhielten.
Nach drei Stunden schwedischer Landstraße und endlosen Wäldern hielten sie mitten im Wald an. Sie hatten einen üppigen Picknickkorb mitbekommen und brauchten genau diese sonnige Lichtung, umringt von dicken Kiefern. In dem Korb fanden sie die typischen Zimtwecken, die sie sich schmecken ließen.
„Wenn das nicht Schwedenurlaub ist“, grinste Sura mit vollen Backen.
Nach dem Essen lagen sie noch ein wenig faul im Gras. Sura schaute das Motorrad an. “Darf ich mal? Keine Angst, ich kann fahren.”
Hans zuckte die Achseln. „Wenn du dich mit so einem Teil auskennst.”
“Ja, ja. Keine Angst.” Sura setzte ihre Eierschale, wie sie den Helm nannte, auf und ließ routiniert den Motor an. Dann verschwand sie in einem kleinen Waldweg. Hans hörte das Motorengeräusch sich schnell entfernen und im Wald verhallen. Ein mulmiges Gefühl beschlich ihn. Ihm fiel auf, dass er eigentlich nichts von dem Mädchen wusste. Hans stand auf und schaute unschlüssig in die Richtung, in der Sura verschwunden war. Sogar sein Gepäck mitsamt seinen Papieren und dem restlichen Geld war in den Gepäcktaschen, auch die Adresse seiner Kinder.
Nach einer Weile glaubte Hans ein Geräusch zu hören. Tatsächlich, irgendwann erkannte er sein Motorrad wieder. Sura erschien auf dem Waldweg. Plötzlich heulte der Motor auf und das Motorrad schoss direkt auf den Stamm einer alten Kiefer zu. Hans glaubte, sein Herz setzte für einen Moment aus. Gleich musste die schwere Maschine mit Sura gegen den dicken Stamm prallen. Im letzten Moment riss Sura den Lenker nach links. Das Hinterrad schleuderte herum und die Maschine grub sich mitsamt dem Mädchen in den weichen Waldboden.
Sura rappelte sich unter dem schweren Gerät hervor und stand mühsam auf. Schwer atmend stand sie vor der abgewürgten Maschine. Anscheinend war ihr nichts Schlimmes passiert. Hans fand seinen Herzrhythmus wieder. Schreiend rannte er auf Sura zu.
“Bist du bescheuert! Was sollte das denn? Willst du dich umbringen oder was?”
Sura schaute Hans an, der inzwischen dicht vor ihr stand. “Vielleicht?”
“Blöde Kuh! Dann nimm das nächste Mal ein anderes Motorrad.” Hans schaute an Sura herunter. “Hast du dir irgendwas getan?”
Sura bewegte Arme und Beine. “Sieht nicht so aus.” Dann nahm sie den Helm ab und über ihr Gesicht liefen die Tränen. “Plötzlich schien alles so einfach. Einfach Gas geben und alles ist vorbei. Keine Fragen mehr. – Aber es ging nicht.”
Hans nahm Sura in den Arm “Mein Gott, Mädchen. Was ist los mit dir?”
Sura ließ die Umarmung zu, legte den Kopf auf Hans’ Schulter und ließ die Tränen laufen. “Ich hab Angst, eine Scheißangst.”
“Komm setz dich und erzähle endlich.” Die beiden saßen voreinander neben dem liegenden Motorrad und Sura begann zu erzählen. “Mein Vater ist vor über einem Jahr ins Krankenhaus gekommen. Er ging rein und kam nie wieder heraus. Ich bin bei ihm aufgewachsen und musste zusehen, wie er in diesem scheiß weißen Bett immer weniger wurde. Sie haben alles an ihm ausprobiert. Ich habe zugesehen, wie er sich die Seele aus dem Leib gekotzt hat von dem Gift, das sie bei der Chemotherapie in ihn hineingepumpt haben und wie kein Schmerzmittel mehr half und er darum flehte, zu sterben. Aber das geht nicht. Im Krankenhaus mögen sie nicht, wenn einer stirbt. Schon als er nicht mal mehr selbstständig atmen konnte und nur noch aus Schmerzen bestand, haben die Maschinen ihn immer weiter leiden lassen. Und ich, ich musste zusehen, Tag für Tag. Vor einem Monat wurde er endlich erlöst. Der liebe Gott, wenn es diesen Typen denn wirklich gibt, hatte wohl doch ein Einsehen und hat ihn, trotz der Götter in Weiß um ihn herum, zu sich geholt.” Sura schaute Hans mit großen Augen an. “Und weißt du, was das Lustigste ist? Die ganze Zeit hatte ich immer so Kopfschmerzen und Schwindelgefühle. Ist ja kein Wunder bei dem Scheiß, dachte ich.” Dabei hob sie den Arm und rieb in dieser Geste, die er schon öfter bei ihr beobachtet hatte, ihren Kopf hinter dem Ohr. “Aber … Vor ein paar Tagen war ich im CT. Ich habe da tatsächlich was in meinem kleinen Kopf. Ist gar nicht groß. Sie wissen noch nicht, vielleicht ist es gutartig – vielleicht auch nicht. Jedenfalls soll ich jetzt auch in dieses Krankenhaus, mich in dieses weiße Bett legen und dann wollen sie das Teil mal rausholen und dann – Überraschung!”
Hans räusperte sich und schaute Sura an. “Und warum fährst du dann hier in Schweden herum? Ich würde ja wissen wollen, was nun los ist.”
“Das ist die bescheuertste Frage, die ich je gehört habe. Scheiße, Mann! Ich habe Angst, eine Wahnsinnsangst. Die lassen einen da doch nie wieder heraus. Und es gibt niemanden, dem ich sagen könnte: He, wenn ich das nicht mehr aushalte, dann sorge dafür, dass sie nicht ihre blöden Maschinen anschließen, ok. Da ist keiner mehr, verstehst du?”
“Und deine Mutter?”
“Was meinst du, warum ich bei meinem Vater aufgewachsen bin?”
“Tot?”
“Ja, tot, tot, tot, mausetot. Hat es vorgezogen zu gehen, um die ganze Scheiße auf Gottes Erden nicht mehr mit ansehen zu müssen.”
“Das tut mir leid.”
“Muss es nicht. Ich habe sie kaum gekannt. Hat sich kurz nach meiner Geburt verpisst. War wohl so erschrocken über mich.” Sura lachte bitter. Die beiden saßen noch eine Weile schweigend da. “Tut mir leid, wegen deinem Motorrad. Ich hoffe, es ist nichts kaputt.
Hans stand auf und stemmte die schwere Maschine hoch. “Schauen wir mal.” Anscheinend war wirklich nichts passiert. Der weiche Waldboden hatte nicht nur Sura, sondern auch das Motorrad weich aufgefangen. Nur die Seitentasche sah etwas zerknautscht aus. “Die waren sowieso schon alt.”
Sura lächelte verhalten. “Na dann können wir ja jetzt weiter.”
“Ja, denke ich auch.”
Die Vereinbarung
Die beiden gönnten sich eine kleine Pension. Jakobs Umschlag machte es möglich. Sie saßen nach einem kleinen Frühstück auf der Terrasse und genossen die ersten Sonnenstrahlen. Hans schaute Sura prüfend an, die ihre Augen geschlossen hatte und ihr Gesicht in die Sonne hielt. “Ich habe über deine Angst nachgedacht. Du kannst nicht ewig hier in Schweden rumfahren.” Sura reagierte nicht und hielt die Augen weiterhin geschlossen. “Ich habe einen Vorschlag. Ich komme mit in das Krankenhaus. Du machst eine Patientenverfügung mit deinen Wünschen und benennst mich als deinen Vertreter, wenn du … na ja.”
Sura öffnete langsam die Augen. “Ich hatte diesen Morgen gerade sehr genossen.”
“Ich verspreche dir, ich werde ganz in deinem Sinne entscheiden, falls ich gefragt werde.”
Sura atmete tief durch. “Du möchtest mich wohl unbedingt in diesem Krankenhaus sehen?”
“Ja, ich mag Arztserien. Die sind immer so schön dramatisch und am Schluss rettet der Gott in Weiß alle und schläft mit der Krankenschwester.”
Sura schaute Hans stirnrunzelnd an. “Wie bitte? Und welche Rolle krieg ich? Die Gerettete oder etwa die Krankenschwester?”
“Ich möchte, dass du dich untersuchen und behandeln lässt. Du weißt ja gar nichts. Vielleicht ist nach dem Eingriff alles ok. Aber wenn du nichts tust, wird es sicher nicht besser.”
Sura schloss wieder die Augen und hielt ihr Gesicht der Sonne entgegen. Hans schaute Sura an und wartete. Warten konnte Hans, wenn es darauf ankam. Und er musste lange warten. Sura stand auf und ging ins Haus. Nach einer gefühlten Ewigkeit kam sie wieder. “Ok, du blöder Gutmensch. Wir machen einen Deal. Du fährst zu deinen Kindern und dann gehe ich in das scheiß Krankenhaus.”
Hans lächelte. “Ok, zorniges Mädchen. So machen wir das.”
Der Schlag
Sura sah Hans prüfend an. “Und du bist sicher, dass du da alleine hinfahren willst? Ein Wort und ich komme mit.”
Hans lächelte. “So etwas Ähnliches hat vor einer Weile schon mal jemand zu mir gesagt. Wirke ich so hilfsbedürftig?”
“Recht hatte er. Euch Alte kann man doch nicht alleine lassen. Erst die großen Fürsorger, aber wenn’s um euch selbst geht …”
“Ja, das war wohl noch nie meine Stärke. Aber wir haben schließlich einen Deal.”
„So, das reicht jetzt aber an Hollywoodszene. Wenn du mich halt nicht dabei haben willst, mache ich mich jetzt vom Acker.”
In ihrer abrupten Art umarmte sie Hans, “Pass auf dich auf, wenn ich das schon nicht mehr kann! Wir treffen uns in Trelleborg.”
Dann ging sie mit zügigen Schritten zum Bahnhofsgebäude und ihr roter, widerspenstiger Haarschopf verschwand hinter den großen Schwingtüren.
Hans blieb nichts anderes übrig, als sich den Helm aufzusetzen und auf seine Maschine zu steigen. Der blubbernde Motor erinnerte ihn wieder daran, dass jetzt der letzte Abschnitt seiner Reise kam. Nur noch zehn Kilometer und er wird seine Kinder wieder sehen. Er freute sich und hatte Angst davor. Wie würden sie reagieren? So viel Zeit war vergangen.
Es war eine Freude, mit leise tuckerndem Motor die schmalen Landstraßen zu fahren und den schwedischen Wald an sich vorbeiziehen zu lassen. Doch Hans’ Gedanken waren nicht bei der Straße und dem endlosen Reigen der grünen Bäume. Jetzt bekam er plötzlich Zweifel, ob es das Richtige war, was er da tat. Einfach so angeschneit zu kommen. Vielleicht wird Katrin, seine Ex, jetzt noch abweisender? Ihm kamen wieder Suras Worte in den Sinn und er musste lächeln. “Mann eh, du musst mal lernen, zuerst zu überlegen, was du eigentlich selber willst. Dann findet sich auch der Rest.” Das ausgerechnet von ihr. Wann hatte sie das noch mal zu ihm gesagt?
Noch fünf Kilometer. Komisch, dass sie hier so mitten im Wald wohnte. Damals wollte sie nie aus Berlin und von den vielen Geschäften weg.
Fast wäre er an dem Schild “Kläppen“ vorbeigefahren. Kläppen, was das bedeuten mochte? Schön klang es nicht. Das Haus, das er nun sah, war ebenfalls ein typisches Schwedenhaus, rot gestrichen, mit schwarzem Dach und der schwedischen Fahne, die hier mitten im Wald wehte. Hans hielt sein Motorrad an und stieg ab. Den Helm hängte er an den Lenker. Langsam ging er die letzten Meter auf das Haus zu. Sein Herz schlug wie vor einem Rendezvous mit vierzehn. Undeutlich sah er einen Kopf hinter einem der Fenster. Dann ging die Tür auf. Das musste Paul sein, sein Paul. Langsam kam er auf ihn zu.
Erst zaghaft, als wollte er es nicht glauben, kam ein “Papa?”
Dann ein Schrei: “Papa!”
Paul lief auf ihn zu und schon hing er an seinem Hals.
Hans hob ihn hoch und drückte ihn an sich. Wie oft hatte er sich in den letzten Tagen diesen Moment ausgemalt. Dafür hatte es sich gelohnt, hierher zu kommen. Es war richtig. Es war gut, dass er gekommen war. Warum war er nicht schon früher gekommen?
Hans sah aus den Augenwinkeln, dass eine zweite Gestalt in der Tür erschien. Es war Katrin. In der Tür stehend, betrachtete sie die Szene. Dann kam sie plötzlich schnell näher.
“Geh ins Haus, Paul!” herrschte sie Paul an. “Du sollst ins Haus gehen“ wiederholte sie schreiend.
Hans ließ Paul los. “Geh ruhig. Ich fahre ja nicht gleich wieder weg.”
“Na, das werden wir noch sehen. Was willst du hier? Ich habe dir doch geschrieben, dass wir unsere Ruhe haben wollen!”
„Paul und Hanna sind auch meine Kinder und ich wollte sie sehen.”
“Und da kommst du hier einfach so an?”
“Du hast mir ja keine Wahl gelassen.”
“Du hast auch keine Wahl verdient. Wer hat uns denn verlassen? Das warst ja wohl du.”
“Ich habe dich verlassen und nicht die Kinder.”
“Das hättest du dir früher überlegen sollen. Es sind nicht mehr deine Kinder”, stieß sie hasserfüllt hervor.
Hans trat jetzt ganz dicht an sie heran. In seinen Ohren brausten ihre Worte. “Es sind nicht mehr deine Kinder.”
“Das hast du nicht zu entscheiden. Ich bin ihr Vater.” An Katrin vorbei sah er, wie sich jetzt Hanna neben Paul in den Türrahmen drängte.
In dem Moment fing Katrin an, Hans zu stoßen. “Willst du mir drohen? Ja, mach doch. Schlagen kannst du ja. Das hast du ja schließlich man gelernt.”
Hans versuchte, Katrins Arme festzuhalten, um sich vor ihrem Angriff zu schützen. Das Blut sauste in seinen Ohren.
Da erschien ein Mann in der Tür, drängte sich an Paul und Hanne vorbei und rannte auf sie zu. Für ihn musste es aussehen, als würde Hans Katrin angreifen. Hans nahm ihn erst wahr, als er schon mit erhobener Faust neben ihm stand.
Alles Weitere passierte innerhalb von Millisekunden. Hans’ Verstand war nicht beteiligt. Die vielen Stunden unmenschlichen Drills, um ihn auf eine Rolle als Einzelkämpfer vorzubereiten, entfalteten ihre Wirkung. Es war nur zwei kurze Schläge, und in der Schnelligkeit und Kraft, die er anwandte, lag auch seine ohnmächtige Wut. Der Mann lag am Boden.
Katrin kreischte hysterisch auf. “Du Mörder!”
Als Hans wieder einen Gedanken fassen konnte, bückte er sich nach dem Mann, prüfte seinen Puls, betastete kurz die Schulter und die Bauchgegend, wo er ihn getroffen hatte. Sein antrainierter Reflex war Gott sei Dank nicht auf Töten ausgerichtet gewesen. Vielleicht hatte es ein paar Rippen erwischt. Aber der Mann würde bald wieder zu sich kommen.
Hans richtete sich auf und schaute in die entsetzten Gesichter seiner Kinder. Katrins Schreie drangen wie durch einen Vorhang an seine Ohren. Er hatte vor den Augen seiner Kinder einen Mann niedergeschlagen und verletzt. Einen Mann, mit dem sie anscheinend zusammen lebten. Ob sie ihn auch Vater nennen?, schoss es ihm durch den Kopf.
Hans drehte sich mit gesenktem Kopf um und ging zu seinem Motorrad. Auf der Straße gab er Gas, als wollte er durch die Geschwindigkeit allem entfliehen. Er sah die Bäume nicht, die an ihm wie Fetzen vorbeijagten und er sah den schweren Traktor nicht, der vor ihm aus dem Wald auf die Straße bog.
Aufwachen
Hans wusste nicht, ob er in einem Bett lag oder auf einem Schiff oder vielleicht in einer Hängematte am Strand von Nimmerland. Alles war so leicht, fast euphorisch und dabei fühlte sich sein Körper gleichzeitig matt und schwerelos an. Irgendwo war da in der Euphorie die Erinnerung an einen Schmerz, an einen großen Schmerz, der anhielt und doch nicht wirklich wehtat, als wäre es nicht sein Körper.
“Herr Falke! Können Sie mich hören?”
Herr Falke! Das bin ich, dachte Hans mit einem lautlosen Kichern. Ja, ich bin es, der Falke. Ich fliege, über allem. Da ist ein Licht. Was sind das für bunte Ringe?
“Herr Falke! Können Sie die Augen öffnen?”
Die Augen öffnen? Sind meine Augen denn nicht offen? Ich fliege mit geschlossenen Augen. Wunderbar. Wieder dieses Kichern. Tatsächlich, jetzt bewege ich meine Lider, glaube ich. Ein Gesicht, direkt über mir. Was macht das Gesicht hier oben?
“Herr Falke. Wenn Sie mich hören können, machen Sie bitte ein Zeichen. Können Sie vielleicht die Hand bewegen?”
Natürlich kann ich die Hand bewegen. Hier! Hallo! Warum bewegt sich das Ding kaum? Beim Fliegen kann man auch nicht winken. Ich bin so müde. Meine Lieder sind so schwer. Ich fliege einfach weiter.
Hans fiel es schwer, die Augen zu öffnen. Die Lichtreflexe zeichneten Kreise auf seiner Netzhaut. Ein Bett. Alles lag im Halbdunkel, dazu die grün-weiß blinkenden Lämpchen. Sein Körper fühlte sich an wie mit Blei ausgegossen. Langsam drehte er den Kopf. Da war ein zweites Bett, ein fremder Haarschopf, ein leises Röcheln.
“Herr Falke?”, fragte eine Stimme mit leicht schwedischem Akzent.
Hans wollte antworten. “Ja”, dachte sein Kopf. Doch die Lippen kräuselten sich nur leicht.
“Herr Falke? Ich bin Schwester Lisa. Sie sind im Krankenhaus, auf der Intensivstation. Soll ich Ihnen die Lippen etwas anfeuchten? Trinken dürfen Sie leider noch nicht.”
Der feuchte Lappen fühlte sich gut an auf seinen rissigen Lippen.
“Ich mache Ihnen Ihr Bett etwas ordentlich, damit die Falten nicht drücken.” Sanft rollte sie ihn nach rechts und links und zog die Laken glatt. “Ich lege Ihnen den Pieper auf ihr Bett, direkt neben ihre Hand. Wenn etwas ist, drücken Sie einfach. Jetzt schlafen Sie ruhig noch ein wenig. Morgen früh wird der Arzt Ihnen alles erklären.”
Gehorsam schloss Hans die Augen.
Hans wusste nicht, wie lange er schon dort lag. Die grüne Umgebung war seine Heimat geworden und er kannte den Rhythmus der Pfleger. Er machte sich Sorgen um Sura. Sie hatten sich doch in Trelleborg treffen wollen. Ob sie allein nach Berlin gefahren war? Hoffentlich ließ sie sich untersuchen. Wie blöd, dass sie überhaupt nichts für so einen Fall ausgemacht hatten. Er hatte weder eine Telefonnummer noch eine Adresse von ihr.
Plötzlich hörte Hans einen kleinen Tumult hinter der Tür zur ITS. Dann flog sie auf und Hans hörte nur die zornigen Worte. „Natürlich will er mich sehen! Und wie er mich sehen will. Das können Sie ruhig mir überlassen, ihn das zu fragen.“
Plötzlich stand Sura vor dem Bett.
„Du siehst scheiße aus, alter Mann. Dich kann man wohl wirklich nicht alleine lassen.“
Hans verzog das Gesicht zu einem missglückten Grinsen. „Ich denke, du bist längst in Berlin, dir das Kügelchen rausholen lassen.“
„Da war so ein Typ. Mit dem war ich verabredet. Aber der kam ewig nicht.“ Sura setzte sich vorsichtig auf den Bettrand. „Diese Eierköppe wollten mir nichts sagen.” Und mit einem schiefen Grinsen setzte sie hinzu, “Jetzt hättest du eher eine Patientenverfügung gebraucht. Wie sieht’s denn aus bei dir? Was hast du eigentlich?“
Stockend begann Hans zu erzählen. Es tat ihm gut, endlich jemandem alles erzählen zu können. Sura saß schweigend auf seinem Bett. Nur ab und zu blitzten ihre Augen auf oder sie schüttelte wütend ihren Kopf. “Und wie hast du mich gefunden?”, schloss Hans.
“Na ja. Nach einer anfänglichen Wut konnte ich es mir doch nicht vorstellen, dass du mich da so einfach in Trelleborg hast stehen lassen. Obwohl. Sei froh, dass wir uns am ersten Tag nicht getroffen haben. Dann wusste ich einfach nicht weiter und habe mich an Gretas Worte erinnert. Ich bin zur ihr gefahren. Die Frau ist einfach der Wahnsinn. Zusammen haben wir dich dann aufgespürt. Sie kennt hier jeden. Hans Falkes lagen auch nicht so viele rum in Schweden.”
“Wie es aussieht, komme ich morgen auf die normale Station. Ich habe mächtig Glück gehabt, sagen die Ärzte. Außer ein paar Kratzern wird nichts zurück bleiben. Das mit dem Kopf kommt mit etwas Ruhe auch bald wieder in Ordnung. Ich bin wohl glatt unter dem Traktor durchgerutscht und der Helm hat auch seine Arbeit getan. Aber mit der Gehirnerschütterung lassen die mich nicht so schnell hier raus. Du musst alleine nach Berlin fahren. Ich komme nach, sobald ich kann. Versprochen.”
Sura schaute Hans an und schüttelte den Kopf. “Erst habe ich hier noch was zu erledigen. Gib mir mal die Adresse deiner Kinder. Ich schätze mal, dein Motorrad fährt nicht mehr so richtig?”
“Die Polizei war hier. Sie haben die Blechreste auf den Schrott gebracht. Aber was willst du mit der Adresse?”
“Das wirst du schon sehen.”
Hans versuchte aufgebracht, sich aufzurichten, sank aber mit geschlossenen Augen zurück ins Kissen.
“Also wie ist die Adresse? – Hör zu! Du gibst mir jetzt die Adresse und ich verspreche, danach sofort nach Berlin zu fahren, auf direktem Weg in dieses beschissene Krankenhaus. Wenn nicht, warte ich hier an deinem Bett, bis du sie rausrückst.”
Hans öffnete die Augen und sah Sura an. Inzwischen wusste er, dass sie es wahr machen würde. “Es scheint dir verdammt wichtig zu sein.”
“Ja. Es kotzt mich an, wenn Ihr Eltern meint, darüber befinden zu können, ob eure Kinder euch brauchen.”
“Im Nachtschrank ist meine Brieftasche, darin ist ein Zettel. – Aber dann fährst du. Versprochen?”
“Versprochen, alter Mann. Ruh dich noch schön aus. Ich bin bald wieder da.” Mit diesen Worten verließ sie die Station.
Am nächsten Tag wurde Hans tatsächlich auf eine normale Station verlegt und kam damit seiner Genesung ein gutes Stück näher.
Er begann, sich in der neuen Situation einzurichten und lag mit den Gedanken an Sura in seinem Bett. Was würde sie jetzt wohl anstellen mit der Adresse? Dieser Dickkopf. Sie musste doch ins Krankenhaus. Da ging die weiße Krankenzimmertür auf, erst zaghaft, dann wurde sie weit aufgestoßen. In der Tür standen Paul und Hanna, dahinter eine grinsende Sura und ein Mann, der ihm bekannt vorkam. Hanna und Paul schauten ihn eine Weile an, als müssten sie sich erst sicher werden, dass er es ist. Dann stürzten sie mit einem Schrei “Papa!” auf ihn zu und hingen an seinem Hals. Hans drückte die beiden an sich und die Tränen liefen ihm über das Gesicht. Erst nach einiger Zeit ließen die beiden los. Der Mann und Sura traten näher. Jetzt erkannte Hans ihn. Es war der Freund seiner Exfrau, den er niedergeschlagen hatte.
“Es tut mir leid”, brachte Hans mühsam hervor.
“Schon gut”, wehrte der Mann ab.
“Ihre Freundin hat mir alles erzählt. Sie ist sehr überzeugend, wissen Sie, und nicht aufzuhalten.”
Sura grinste. “Wäre ja auch noch schöner, wenn sich hier alle so bekloppt benehmen.”
“Ich wollte Sie nie als Vater verdrängen. Das ist wohl alles ziemlich schief gelaufen. Ich bin übrigens Ole.”
“Hans”, Hans schaute an Ole vorbei.
“Nein, Katrin ist nicht dabei, aber sie weiß natürlich, dass wir hier sind.”
“Vielleicht lassen wir die drei jetzt mal allein. Ihr könnt euch ja später noch wie zwei Erwachsene unterhalten.” Mit den Worten schob Sura Ole aus dem Zimmer und schloss hinter sich die Tür. Hanna und Paul schauten Hans groß an. Dann fing Paul an zu reden und Hanna fiel immer wieder ein. Hans schaute glücklich auf seine beiden plappernden Kinder.
Berlin Charité
“Wie haben sie dich denn so schnell in Schweden aus dem Krankenhaus gelassen?”
“Haben sie gar nicht.”
“Unvernünftiger alter Mann.”
“Und wie sieht’s aus bei dir?”
“Die Voruntersuchungen sind abgeschlossen. Morgen wird der Kopp uffgemacht.”
“Dann bin ich ja gerade zur rechten Zeit gekommen.”
“Ja. – Hans? Ich habe Angst.”
“Ich weiß.”
“Ich will hier nicht an den Maschinen hängen. Du denkst doch an dein Versprechen?”
“Ja, natürlich. Die Ärzte kennen außerdem deinen letzten Willen. Aber noch ist ja gar nicht gesagt, dass es so weit kommt.”
Sura nickte mit zusammengekniffenen Lippen.
***
Sura wachte langsam auf. Das Licht der Deckenleuchten malte Lichtblitze auf ihrer Netzhaut. Über sich sah sie den Bügel, an dem man sich emporziehen konnte. Ganz langsam hob sie die Hand an ihren Kopf. Ein dicker Verband verdeckte ihre roten Haare. Sura fühlte nichts, nur so eine seltsame Schwerelosigkeit. Die Schmerz- und Narkosemittel taten noch ihre Wirkung.
“Frau Schwarz! Können Sie mich hören?”
Sura nickte schwach.
“Sehr gut. Sie haben die OP gut überstanden.”
Sura versuchte ein Lächeln. Aber es wurde nur ein leichtes Zucken der Gesichtsmuskeln.
“Schlafen Sie noch ein wenig. Morgen zur Visite erklärt Ihnen der Arzt alles. Falls Sie mich brauchen, drücken Sie einfach auf diesen Knopf.”
Sura versuchte schwach zu nicken und versank schon wieder in einen narkoseschweren Schlaf. Nachts wachte sie immer wieder auf und wurde von wirren Träumen geplagt. Ihre Mutter, die sie nur von Bildern kannte, schwebte über ihrem Bett und flog kichernd davon. Ihr Vater erschien mit einem Verband am Kopf, der immer größer wurde bis er das ganze Zimmer ausfüllte. Dann sah sie ihn lautlos schreien und hilflos nach ihr greifen. Endlich war die Nacht vorbei.
Irgendwann stand Hans an ihrem Bett. “Na wütendes Mädchen? Wie geht es dir?”
“Na super”, wollte Sura antworten. Aber es kam nur ein Krächzen aus ihrem Mund. Sie schluckte den Schleim in ihrem Hals hinunter und versuchte ein Lächeln.
“Möchtest du etwas trinken?” Hans hielt ihr eine Schnabeltasse an die Lippen. “Keine Sorge. Du darfst schon trinken. Ich habe extra gefragt.”
Sura trank mit kleinen Schlucken und das Geräusch dröhnte in ihren Ohren. “Danke.” Jetzt kamen die Laute schon besser über die Lippen, nachdem der Schleim aus ihrem Mund und ihrem Hals etwas weniger geworden war.
“Gleich ist Visite. Der Aufmarsch der Götter in Weiß. Ich komme danach wieder.” Hans legte kurz seine Hand auf Suras Schulter und sie lächelte, dankbar für diese Geste. “Schön, dass du da bist.”
Hans nickte und ging. Kurze Zeit später ging die Tür auf und der Oberarzt mit seinem Gefolge kam ins Zimmer. “Hallo Frau Schwarz. Wie geht es Ihnen?”
Sura versuchte ein mattes Lächeln. “Gut. Danke.”
“Nun.” Der Arzt schien nach Worten zu suchen. Suras Herz begann wild zu klopfen. “Die gute Nachricht ist, die OP ist gut verlaufen. Wir haben den Tumor entfernt. Er war ja auch noch sehr klein. Wie es aussieht, ist auch sonst das Gehirn nicht in Mitleidenschaft gezogen worden. Alles in allem ein sehr erfolgreicher Eingriff.” Der Arzt schien wieder nach Worten zu suchen. Allerdings habe ich auch eine schlechte Nachricht. Der Tumor war bösartig, ein langsam, aber stetig wachsender Tumor.”
“Krebs?”, fiel Sura ihm ins Wort.
“Ja. Allerdings haben wir die große Chance, dass noch keine Metastasen gebildet wurden und wir den Tumor vollständig entfernen konnten. Es ist aber nicht sicher. Wir konnten aufgrund der Lage auch nicht großräumig entfernen, um das Gehirn zu schützen. Es bleibt ein Risiko.”
Sura schloss die Augen und versuchte, die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten. Sie wollte nicht vor all diesen fremden Weißkitteln heulen.
“Deshalb schlagen wir eine Nachbehandlung mit Chemotherapie vor. Wie gesagt, der Tumor war noch extrem klein, aufgrund der Lage haben wir ihn im Frühstadium erkennen können. Ihre Chancen sind nach heutiger Sicht ganz gut.”
“Ganz gut. Was heißt das denn?”
“Ich möchte jetzt noch keine Zahlen sagen. Das würde sie nur verwirren. Wir werden noch weitere Untersuchungen machen, auch am entnommenen Gewebe. Dann wissen wir mehr. Und wir werden sofort mit der Chemotherapie beginnen.”
“Wenn ich einverstanden bin.”
Der Arzt zuckte fast unmerklich mit den Lippen. “Ja natürlich, Ihr Einverständnis vorausgesetzt.”
Sura atmete tief ein und aus und schaute zur Decke. Vor ihren Augen sah sie ihren Vater in seinen letzten Stunden, gekrümmt vor Schmerzen in seinem weißen Krankenhausbett liegen. In genau so einem Bett lag sie jetzt auch.
“Wir lassen sie jetzt erst einmal allein. Nachher kommt Doktor Braun noch einmal vorbei und erklärt Ihnen den Ablauf der Chemotherapie. Glauben Sie mir. Es ist das Beste und wir haben eine gute Chance, sie geheilt zu entlassen.”
“Das passt ja, Doktor Braun und Frau Schwarz.”
Der Oberarzt verzog die Lippen zu einem angedeuteten Lächeln.
Als sich die Tür hinter der Abordnung schloss, drehte Sura sich zum Fenster und ließ ihren Tränen freien Lauf. “Verdammt, verdammt. Warum nur? Das ist nicht fair!”
Sura hatte das Zeitgefühl verloren. Sie merkte nur, dass Hans irgendwann wieder gekommen war. Er setzte sich auf den Bettrand und nahm ihre Hand. “Ich habe es gerade erfahren.”
“Warum passiert mir andauernd so etwas? Ich möchte doch einfach nur gesund hier raus. Ist das auch schon wieder zu viel verlangt?”
Hans schaute Sura an. “Nein Sura, das ist es gewiss nicht.”
“Ich habe so eine Angst. So fing das bei meinem Vater doch auch an, mit dieser Scheiß Chemo. Und dann, dann lag er hier in diesem beschissenen weißen Bett und hat sich fast totgekotzt.”
“Ich habe lange mit deinem behandelnden Arzt gesprochen. Wie es aussieht, hast du wirklich eine gute Chance. Außerdem ist die Chemo wohl besser geworden, mit weniger Nebenwirkungen. Ich möchte dich hier hinausgehen sehen und ich möchte spielen, wenn du singst. Ich möchte mit dir zusammen Musik machen. Und wir werden das machen!”
Sura schaute zum Fenster, auf die Sonnenstrahlen, die ins Fenster fielen und mit den Staubteilchen spielten und schwieg.
Der Auftritt
Sura trat zu Hans ans Klavier, der wie immer wie nebenher über die Tasten strich, wie um sich mit ihnen vertraut zu machen. Dabei kannte er das Klavier von ihren vielen Proben.
“Mann, ich bin scheiße aufgeregt! Warum tu ich mir das überhaupt an?”
“Weil du es wunderbar machen wirst. Weil wir lange genug geübt haben und es verdammt schade wäre, wenn nur ich deine Stimme hören würde.”
“Du brauchst doch nur eine Begleitung für dein Klaviergeklimper. Ich bin doch hier nur die Beigabe.”
Hans lächelte. “Wie du meinst, Beigabe.”
“Hast du übrigens gesehen, deine Kinder sitzen ganz vorn in der ersten Reihe und sind so zappelig, dass sie keine Minute still sitzen können.”
Hans lächelte. “Schön, dass du auch Greta und Jakob eingeladen hast.”
“Ja klar. Ich finde es klasse, dass sie tatsächlich beide gekommen sind.”
“Habe ich dir übrigens schon gesagt, dass dir das Kleid wunderbar steht? Sogar deine Igelfrisur passt dazu.”
Sura verzog den Mund. “Was tut man nicht alles als Beigabe. Mit den Haaren war halt noch nicht mehr drin in der kurzen Zeit. Wachsen langsam, die doofen Stoppeln. Aber eins sage ich dir. Sobald die Haare wieder länger sind, werden sie wieder rot.”
“Mir würde auch was fehlen, wenn nicht.
Achtung! Jetzt fängt es an.”
***
Mehr Informationen zu Uwe Schmidtke:
Sein Weg zum Schreiben führte ihn bisher über kleinere Geschichten, einem ersten Versuch eines Jugendromans mit Unterstützung von Rainer Wekwerth und Karin Haller vom Institut für Jugendliteratur in Wien, zu Schreibwerk Berlin.
Hier entstand diese Kurzgeschichte unter der freundlichen und sachkundigen Anleitung von Hanne Landbeck.
Foto: Photo by Clara Lilley on Unsplash