Plagiat: Die deutsche Suche nach dem falschen Wort
Plagiat: Die deutsche Suche nach dem falschen Wort
Für alle höheren Wesen, die wir verehren
Schon wieder ist eine Ministerin zurückgetreten, weil sie angeblich nicht korrekt wissenschaftlich gearbeitet habe. Also ein Plagiat geschrieben und als eigene Arbeit abgegeben hat. Sie darf sich Frau Doktor nennen. Durfte. Jemand aber hat sich akribisch über ihre Doktorarbeit hergemacht und offenbar inzwischen Erfolg mit seinem Plagiatsvorwurf. Nicht, dass Sie mich falsch verstehen: Nehme ich in einer wissenschaftlichen Arbeit eine Theorie, eine Erkenntnis oder auch ganze Absätze von anderen und erkläre das nicht, dann ist das natürlich nicht korrekt.
copy&paste
Ich kann nicht beurteilen, inwieweit Franziska Giffey absichtlich inkorrekt zitiert hat bzw. Aussagen von anderen WissenschaftlerInnen als ihre eigenen verkaufte. Sie hat 2010 promoviert, da konnte man schon ganz gut mit copy&paste Passagen aus anderen Arbeiten Teile ausschneiden und in die eigene kleben. Ein bisschen umformulieren, und schon hat man wieder ein Kapitel geschrieben.
So leicht hatte ich es nicht, ein Fossil, nicht ganz so alt wie Annette Schavan. Die das aber offenbar schon zu ihren Zeiten mit Kopieren, Abschreiben und Kleben bewerkstelligte: Wo ein Wille, da ist auch immer ein Weg.
Ich selbst fand bereits im Grundstudium, dass da einiges falsch läuft im Wissenschaftssystem. Denn mir war es verwehrt, eigene Theorien zu bilden, wenn ich sie nicht auf den Erkenntnissen schon publizierter Theorien aufbaute und von ihnen ableitete. Also war ich gezwungen, unglaublich viel zu zitieren. Um zu beweisen, dass ich die anderen Arbeiten gelesen hatte.
Originalität des Gedankens
Um mich dann mit meinen eigenen Worten und Thesen von ihnen abzusetzen. Klar ist: Die Marge für Originalität des Gedankens zumindest in den Geisteswissenschaften ist dadurch recht überschaubar. Man wird belohnt mit dem jeweiligen Titel oder Abschluss, wenn man brav die Vorigen zitiert. Auch wenn sie nur gesagt haben, dass z.B. das didaktische Dreieck aus Lehrer, Tafel und Schüler besteht. Ein so origineller Gedanke, dass ich mich damals im Hörsaal kringelig lachte. Aber wehe, ich hätte dieses, mein Amüsement, auch in meiner Doktorarbeit dargestellt, das wäre einer Revolution gleichgekommen.
Wer steckt dahinter?
Woran aber liegt es, um wieder zur Ausgangsfrage zurückzukommen, dass wir Deutschen so gerne den anderen Deutschen nachweisen, dass sie falsch gehandelt haben? Vor allem jenen, die eine Rolle spielen im System? Und dass wir uns so freuen, nicht nur klammheimlich, wenn sie ihres Verbrechens überführt wurden? Gar zurücktreten müssen? Wer steckt dahinter? Was für eine Person ist es, die sich 230 Seiten vornimmt und sie Wort für Wort auf Passagen untersucht, die abgeschrieben sein könnten?
Hunderttausend Euro
Er habe 500 Stunden daran gearbeitet, sagt der Plagiatsjäger von Franziska Giffey. Er hat keinen Klarnamen, aber ein Pseudonym: Robert Schmidt nennt er sich. (Wahrscheinlich ein idealer Protagonist für einen Krimi.) Wir können nach einem Interview mit seinem Kollegen Martin Heidingsfelder im Cicero davon ausgehen, dass sein Motiv einfach der schnöde Mammon ist. Heidingsfelder behauptet, er bekäme 200 Euro pro Stunde für seine Recherchen – rechnen wir die von Robert Schmidt angegeben 500 Arbeitsstunden mit diesem Stundensatz hoch, erhalten wir die stattliche Summe von hunderttausend Euro. Wobei ich jetzt nicht weiter recherchiere, ob das brutto oder netto ist.
Plagiatsjäger und ihre AuftraggeberInnen arbeiten erfolgreich auf der Grundlage der Empörung. Von Menschen, die vielleicht keinen Doktortitel tragen, sich aber als redliche BürgerInnen verstehen. Die hart arbeiten, um gerade mal so ihre Existenz zu finanzieren. Das sind die Guten. Oder? Ist es nicht auch einfach der Neid, der zur Empörung führt? Die wiederum zum Aufschrei? Der wiederum zum Rücktritt?
Die Auftraggeber
Doch ist das Thema damit natürlich nur gestreift. Die wichtigere Frage wäre, wer die AufftraggeberInnen sind. Da wir uns bei vielen Plagiatsfällen in der Politik aufhalten, kämen die jeweiligen GegnerInnen – und es sind wohl keine Privatleute, wohl auch keine Privatkassen, die das finanzieren – ebenfalls aus dem politischen Lager. Wahrscheinlich sollte man allen angehenden PolitikerInnen raten, wie Joschka Fischer das Abitur zu schmeißen. Oder wie Vaclav Havel, niemals in die akademische Laufbahn zu gelangen, weil man eh schon Dissident ist. Das sind dann saubere Zugänge zur Politik.
Die Debatte über den Rücktritt von Franziska Giffey und anderen verhindert durch ihre Lautstärke Diskussionen, die den Sachen auf den Grund gehen: Wer hat ein Interesse daran, dass die Plagiatsjäger fündig werden? Welche Erfolge haben die inkriminierten PolitikerInnen nachzuweisen bzw. welche Misserfolge (würden Sie mich nach dem Verkehrsminister fragen, der hätte sicher einen eigenen Untersuchungsausschuss und entsprechende Ausschlussverfahren verdient, aber Sie fragen ja nicht nach ihm).
Das höhere Wesen, das wir verehren
Wirksam werden die Plagiatsrecherchen, weil sie Lärm verursachen. Und weil sie auf die Empörungskultur stoßen, die in Deutschland wahre Blüten treibt. Wer sich nicht empört, lebt verkehrt, denkt man angesichts der vielen Empörten, die mit Aluhüten oder Wünschelruten Literatur danach untersuchen, welche Worte auf den Index gehören.
Mich erinnert das alles an eine Satire von Heinrich Böll. Offenbar hat er in Doktor Murkes gesammeltes Schweigen und dem Höheren Wesen, das wir verehren schon 1955 aktuelle Entwicklungen vorausgesehen. Oder hat sich vielleicht gar nichts geändert? Er wolle einer Welt entgegentreten „die dauernd schreit, die laut ist und schon damals laut war und heute noch lauter ist“, sagte er. Was würde Heinrich Böll heute wohl sagen? Er war eben seiner Zeit voraus.
Aber das ist ein anderes Thema. Oder?
Foto von Becca Tapert bei Unsplash
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Eva de Voss
Es ist es genau so, wie Hanne schreibt. Das Ritual des korrekten Zitierens muss bereits im Deutschunterricht der Oberstufe gelehrt werden, weil im 12. Jahrgang das Ritual der “Facharbeit” ansteht: Die Schüler sollen dann in einem Klausurfach erstmals “wissenschaftlich” arbeiten an einem begrenzten Thema von ca. 10-12 Seiten und dabei Sekundärliteratur auswerten und entsprechend korrekt zitieren. Unzählige Male habe ich den Unterschied von “wörtlichem” und “sinngemäßem” Zitat erläutert, dazu die korrekte Verwendung von ebd. /a.a.O / vgl. etc.etc. Genützt hat es nichts. Zitiert wurde entweder gar nicht oder irgendwie – hinzu kam, dass man bereits damals (ich spreche von den Jahren 2007-2011) zwar zahllose diskriminierende Bilder sinnlos betrunkener Mitschüler ins Netz stellen konnte, nicht aber einen Blocksatz formatieren oder korrekte Fußnoten setzen. Das ist bis heute so geblieben, wie man mir erzählt, social media ja – wissenschaftliches Arbeiten nein. Einer meiner mittlerweile uralten, längst emeritierten Professoren, den ich vor längerer Zeit zufällig traf, jammerte über die unsäglichen Seminararbeiten der Studenten, die zwar immer länger, aber immer schludriger würden. Und so geht es auch mit den “Doktorarbeiten” von Politikern, i.d.R. nur um der Karriere willen in Angriff genommen, zu verschwurbelten Themen (Schavan!!), möglicherweise bei einem Parteifreund als Doktorvater geschrieben. Wenn mit “copy and paste” gearbeitet wird, braucht man nicht hunderte von Stunden, um derlei zu entlarven, es gibt mittlerweile komfortable software, die bereits ich benutzte, um Facharbeiten als heiße Luft zu enttarnen, der Plagiatsjäger der Ministerin bläst sich hier meiner Meinung nach über Gebühr auf. Dass er allerdings von interessierter Seite fürstlich entlohnt wurde, lässt sich denken.
Ich stehe – obwohl selbst mit einem bisher nicht beanstandeten “Dr.phil.” garniert, diesem akademischen Ritual seit langem äußerst skeptisch gegenüber – was hätte man in den Jahren in der UB mit der Nase in verstaubten Schwarten des 18. Jahrhunderts nicht Sinnvolles machen können…
Monika
Liebe Hanne, du hast mir aus der Seele gesprochen. Dein grandioser Beitrag über das Plagiat ist “großes Licht” und verdiente mehr Öffentlichkeit.Vielleicht ist hier jemand im journalistischen Netzwerk, der ihn noch in andere Medien befördern könnte.
Herzlichst
Monika aus Hanau
Till
Liebe Hanne, Danke für Deinen Blogbeitrag. Sehr erhellend!