Wie funktionieren Narrative?
Wie funktionieren Narrative?
Narrative entfalten eine große Kraft. Wo wir gehen und stehen, arbeiten und leben, erzählen wir. Man nennt den Homo sapiens auch den Homo narrans, den erzählenden Menschen, und meint damit sicher alle möglichen Geschlechter.
Wir erzählen uns selbst Geschichten, wenn wir allein sind, wir tellen Storys, wenn wir mit Familie und Freunden zusammen sind. Ebenso sprechen wir über Politik und Gesellschaft meist in Narrativen.
Die Hebb’sche Lernformel besagt: Je öfter Neuronen zusammen „feuern“, desto intensiver merken wir uns die damit verbundenen Anlässe. Wenn diese Anlässe als Story daherkommen, haben wir mehr Möglichkeiten zur (inneren) Re- und Aktion. Wir empfinden etwas, wir denken, wir stellen uns etwas vor, wir fiebern mit den HeldInnen der Geschichte. Je besser das Narrativ funktioniert, desto mehr fühlen wir uns mit ihm verbunden. Die Essenzen dieser Geschichten formen sich zu Glaubenssätzen und wirken auf unser Leben.
Wenn wir in der Badewanne sitzen
Wir erzählen uns unsere eigenen Geschichten, wenn wir in der Badewanne sitzen (verboten, ich weiß: hier greift das neue Narrativ des Sparens) – und häufig genug wiederholen wir negative Glaubenssätze – aber wir können sie durch neue, positive ersetzen. Dazu brauchen wir aber neue Narrative. Das gilt auch für die aktuelle Weltsicht. Wir brauchen unbedingt neue Narrative. Dazu weiter unten mehr.
Wenn wir Beziehungen eingehen, diese festigen und erhalten: Auch dann nutzen wir die Kraft des Narrativs. Denn wir erzählen uns gegenseitig Geschichten – am Anfang der Beziehung oft jene des Menschen, der wir gerne wären, dann folgen die gemeinsamen Erzählungen der ewigen Treue und Verbundenheit (mit dem Symbol des Schlosses an der Brücke über dem Fluss), irgendwann vielleicht jene der Vertrauensbrüche – inklusive der „Du hast“- bzw. eher „Du hast nicht…“-Rhetorik. Diese führt uns folgerichtig zu solchen Storys, die wir Anwälten oder Richterinnen erzählen. Und danach berichten wir den verbliebenen Freunden von Scheitern, Schuld und Schande. Und von uns selbst als Opfer.
Erfolgsgeschichten sind wirksame Narrative
Wir haben es in der Hand, wie Narrative wirken – zumindest, wenn es um die eigene Geschichte geht. Wir können Details verändern, den Blick, die Perspektive auf das Geschehen. Irgendwann ist unsere Ehe-Geschichte vielleicht auch die der schönen Momente und der einer vergangenen Zeit.
Mythen sind ebenfalls Narrative. Der böse Wolf ein Symbol – für die allgegenwärtige Pädophilie oder andere vermeintlich Starke, die sich Opfer suchen. Das Rotkäppchen-Narrativ ein Beispiel dafür, wie mit List, Tücke und Solidarität der Bann des Bösen bricht.
Es gibt Erfolgsgeschichten, deren eingängigste Formel (und kurzer Plot) „Vom Tellerwäscher zum Millionär“ lautet. Heutzutage handeln sie von Helden wie dem Welt- und Internetraumerkunder Elon Musk.
Erfolgsgeschichten sind wirksame Narrative. Sie wandeln sich im Laufe der Zeit, avancieren zum Mythos einer gesamten Kultur, bis neue Storys sie (noch nicht ganz) ablösen – diese fokussieren eher auf Diversität, auf Unterdrückung, auf den alten weißen Mann. Die Regenbogenbinde mit der dahinterstehenden Geschichte der demokratischen Offenheit und Toleranz trifft gerade vor der Weltöffentlichkeit auf die entgegengesetzte Erzählung der Unterdrückung von Frauen, von alternativen Lebensentwürfen, der Akzeptanz von Korruption und der brutalen Durchsetzung von Macht.
Geschichten bilden Gemeinschaft
Geschichten / Narrative sind in jeder Lebenslage und -form effizient. Sie stiften Identifikation für Individuen, Organisationen und Gesellschaften. Auch wenn wir Narrative als unzeitgemäß ablehnen – wie die des erfolgreichen weißen Mannes – geben sie uns Orientierung, sie versichern uns unserer selbst.
Narrative sind dann beständig, wenn sie oft wiederholt werden. Das gilt für Familien – wir zum Beispiel hatten dafür meine Oma, die sich rückhungernd an die Zeit erinnerte, in der sie „nur 120 Pfund“ wog. „Ein Klappergestell“ sei sie gewesen, sagte sie, sich selbst bedauernd, und versicherte sich so, dass sie schwere Zeiten durchgemacht hat. Das hat sie sicher – und uns erschien ein Lächeln auf den Gesichtern. Das zeigt, dass sich nicht nur die Narrative ändern, sondern auch die damit einhergehenden Körperideale und alle anderen Werte und Maßstäbe mit. Es zeigt auch, dass Geschichten Gemeinschaften bilden.
Narrative stehen in Konkurrenz zueinander
Man könnte die Geschichte der Welt als eine von sich wandelnden, sich widersprechenden, mehr oder weniger erfolgreichen Narrative erzählen. Zurzeit befinden wir uns deutlich spürbar in einem gewaltigen Umbruch der Narrative. Das „unendliche Wachstum“ (mein Haus, mein Auto, meine Frau) hat fast ausgedient – aber es streitet sich wacker mit jenen, die eine Umkehr der Energiequellen fordern. Kein Wunder, denn erst müssen wir frieren, bis sich die Windräder auch in Bayern drehen.
Momentan ist nicht nur das Klima-Narrativ zurecht auf der Agenda, sondern auch das Kriegsnarrativ. Neue Helden traten auf den Plan, Waffen werden hin und her transportiert und in allen Medien gibt es den Bösewicht (Russland) und die Guten (Ukraine).
Narrative funktionieren wie Romane
Merke: Narrative funktionieren wie Romane: Es gibt ein Ziel (Befreiung der Ukraine) und seine HeldInnen und Bösewichte.
So vereinfachen Narrative komplexes Geschehen auf eingängige – in Variation erzählte, auch tatsächlich stattfindende Geschichten. Sie gewöhnen ganze Zuschauernationen an den Krieg als nahe Tatsache, an den Krieg in Europa. Wer weiß, welcher der Diktatoren sich da nicht heimlich die Hände reibt – Erdogan droht ja schon unverhohlen seine nächtlichen Angriffe auf Griechenland an.
Narrative aber sind – wie alle Fiktionen – keine objektive Darstellung von Wirklichkeit, sondern eine bearbeitete. Dramatisiert, vereinfacht, auf Höhepunkte hin organisiert. Der Krieg in der Ukraine ist wohl eher für die meisten, die ihn erleiden, eine langsam ablaufende Zeit des Hungerns, des Frierens und der Angst. Zugespitzt aber für alle Narrativ-Medien ein gefundenes Fressen.
Das “blaue Narrativ”
Das Zukunftsinstitut hat eine farbige Kodierung der „ökologischen Narrative“ vorgenommen: schwarz, grün und blau – wobei das „blaue Narrativ“ jenes ist, das Hoffnung generiert, Zukunft möglich macht. Es fußt auf einem „dynamisch-systemischen Weltverständnis“ und bietet positive Optionen (Menschen sind wunderbar!). Solche Glaubenssätze brauchen wir tatsächlich unbedingt, denn die Narrative der „Klimakatastrophe“, des Untergangs der Welt, der „letzten Generation“ sind zwar leider berechtigt. Aber wenig hilfreich. Im Gegenteil, die ständige Wiederholung der Hoffnungslosigkeit führt lediglich zu unser aller Resignation.
Das negative Narrativ ist momentan obenauf. Seit mindestens einer Generation hören die Kinder wenig Positives. Man mag sich gar nicht vorstellen, wie sich diese Disposition auf die psychische Gesundheit auswirkt.
Nicht nur wegen der Kinder und Kindeskinder und deren Kinder benötigen wir positive Narrative, sondern um unser aller willen. Das positive (blaue) Narrativ benötigt Unterstützung. Es braucht eingängige Formeln, Helden, Gegner und Erfolgsgeschichten.
Es gibt sie, die positiven Narrative: Der Ocean-Cleaner Seabin säubert die Meere, Die schweizerische Firma Energy Vault sucht und findet Lösungen, Wind- und Sonnenenergie langfristig zu speichern und der neue brasilianische Präsident Lula da Silva (Lula „vom Wald“) verspricht, alles zu tun, um den Regenwald zu retten.
Arbeiten Sie also mit an den „blauen Narrativen“: Erzählen Sie positive Geschichten, finden Sie Lösungen in Ihrem Bereich und erzählen Sie es allen: Ihren Kindern, Enkelkindern, den Nachbarn, Freundinnen, schreiben Sie die Geschichten auf.
Agieren Sie gegen die Narration der unausweichlichen Kriege (auch in Europa), setzen Sie Beispiele gegen die Umweltkatastrophe: Bestellen Sie Ihren Garten, halten Sie Hühner und Bienen, seien Sie bewusst freundlich gegenüber Ihren Feinden.
Finden Sie die eingängige Formel, so wird diese dann von Mund zu Mund, von Schrift zu Schrift, von Tür zu Tür, von Panel zu Internetforum weitererzählt. Und sie wird Hoffnung schüren. Denn die stirbt ja bekanntlich zuletzt.
Foto Brett Jordan, Unsplash