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Ist autobiographisches Schreiben heilsam?

Autobiografie Selbstlernkurs

Ist autobiographisches Schreiben heilsam?

Autobiographisches Schreiben ist oft der erste Impuls, AutorIn zu werden. Das kann ein Trauma sein, irgendeine Art von Missbrauch, den sie oder er in der Kindheit oder auch später erlitten hat, eine Krankheit oder eine schwierige aktuelle Situation. Ein Tagebuch beginnen wir meist in der späteren Kindheit oder Jugend und notieren alle schlechten Gefühle – weniger die guten. Paul Auster hat in einem Interview gesagt, dass er zwar nicht glaubt, dass ein Mensch beständig glücklich sein könne, dass aber überwiegend glückliche Menschen keinen Anlass zum Schreiben hätten. 

Wie ist es Ihnen ergangen? Haben Sie Ihren Schreibanlass im Glück oder eher im Unglück gefunden? Hat Ihnen das Schreiben geholfen? Hilft es Ihnen bei der Überwindung schwieriger Situationen?

 

Meine Antwort ist ein klares Jein

Um Ihnen ein Beispiel zu geben, nämlich mich: Ich kann diese Frage mit einem klaren Ja und einem klaren Nein beantworten. Meine Antwort ist ein klares Jein. Ja, weil ich oft beim Schreiben Freude empfand; nein, weil ich nicht denke, mich jemals selbst dadurch geheilt zu haben.

Blumen, Fliegenpilze, Kinder, Engel


Als ich mit dem Schreiben begann, also als Kind – da führte ich intensive Briefwechsel mit FreundInnen aus Deutschland, Holland und Frankreich – und dieses Tun erfüllte mich mit großer Freude. Freude an und für sich ist ja auch schon eine Art “Heilung”. Insofern lautet hier die Antwort: ja.
Ich klebte oft schöne Glanzbildchen in die Briefe und schrieb über Alltägliches und – im Rahmen meiner Möglichkeiten – Philosophisches. Die Glanzbildchen hatten unterschiedliche Motive, Blumen, Fliegenpilze, Kinder, Engel …

Ja, auch Engel. Dabei freute ich mich über den Glanz der Bilder und empfand Vorfreude darauf, dass auf meinen Brief ein Brief zurückkommen würde. Bis mein Vater diese Tätigkeit zu exzessiv fand und immer wieder über die vielen Briefe schimpfte. Wahrscheinlich strapazierten – er war überzeugter Atheist – die Engel seine Geduld. Dennoch freute ich mich auf die Briefe, die ins Haus flatterten – vielmehr von der Dorfbriefträgerin, Frau Schwarz, gebracht wurden.

Da kam dann zu meinem Glück Frau Schwarz mit ihrem Fahrrad, setzte mich auf den Gepäckträger und rettete mich. Darüber habe ich aber nie geschrieben, das hatte ich – bis heute – verdrängt. Ebenso wie die Glanzbildchen. Also lautet die Antwort, ob das autobiographische Schreiben mir diesbezüglich geholfen hat: nein. Denn ich schrieb ja nicht darüber. Aber jetzt empfinde ich Lust dabei, mich an Glanzbildchen und schwarze Fahrräder zu erinnern. Ob mich das jetzt heilt? Auf jeden Fall schafft es gute Laune. Jetzt noch verbinde ich den angenehmen Geruch benutzten Leders mit der Verheißung auf eine Botschaft aus der Ferne. (Übrigens: Welchen Geruch hat eine E-Mail?)

Irgendwann hörte ich einfach auf, Briefe zu schreiben. Dieser traurige Umstand wäre doch ein Anlass gewesen, ihn im Tagebuch zu bearbeiten, oder? Das habe ich aber nicht getan. In meinen Tagebüchern stehen Gedanken über Geschehenes, Abstraktes, manchmal auch Philosophisches, Trauriges und sehr selten Schönes. Aber nichts über Posträder, Glanzbildchen oder atheistische Väter.

Später dann, als ich mich in die Kunst des Schreibens vertieft hatte, finden sich autobiographische Sätze wie:

“Blick auf den See, das Wasser schimmert silbern, wie der Reiher am Ufer. Stolz glänzt er in seelenruhiger Gewissheit seines baldigen Fangs und der alterslosen Schönheit seiner Gestalt: Majestätisch, das ist es, was mir fehlt, ich aber entwickeln sollte. Seelenruhige Gewissheit meiner Selbst, überzeugtes Dasein im Nur-so-Sein, auch ein Spatz ist mit sich eins, zwar kleiner, schneller, verschwatzter und gemeiner, aber er zweifelt nicht. Der Mensch ist das an sich (ver)zweifelnde Wesen. Allerdings zweifeln nicht alle…”

 

Dem Text ist es egal, ob wir uns durch ihn “heilen”

Ob mir dieser Eintrag geholfen hat, mein zu wenig majestätisches Wesen zu trösten oder gar zu stärken, das weiß ich nicht mehr. Was mir in Erinnerung geblieben ist, ist die Freude am Vergleich des Menschen mit dem Vogel.

Das macht (für mich) das wirkliche Schreiben aus: Die selbst erlebten und empfundenen Dinge heben sich auf eine andere Stufe. Dem Text ist es egal, ob wir uns durch ihn “heilen” oder nicht. Die Freude am Vergleich gestatte mir einen Moment des Glücks, der allein mein Schreiben adelt. So auch jetzt, als ich mich wieder der Glanzbildchen und der Posttasche erinnerte. Ich könnte jetzt weiter schreiben, Ereignisse und Atmosphären aus der Kindheit überfallen mich geradezu … aber ich will Sie ja nicht quälen (sehen Sie, da ist er wieder, der Zweifel). Ich will Sie nämlich etwas fragen:

Hilft Ihnen autobiographisches Schreiben?

Hilft Ihnen autobiographisches Schreiben – hat es jemals eines Ihrer Traumata geheilt? Oder gar intensiviert?
Mich interessieren Ihre Erfahrungen mit dem autobiographischen Schreiben: Antworten Sie entweder hier im Kommentarfeld oder schicken Sie uns Ihren Text. Die schönsten, tragischsten, erschütterndsten, intensivsten Texte publizieren wir in unserem Blog. Wir freuen uns über jede Erinnerung, die Sie mit uns teilen, über jede Erfahrung (mit dem Schreiben) und vor allem, wenn Sie dadurch ins Schreiben kommen.

Hier noch ein Hinweis auf einen Text, der mir die Idee des heutigen Blogs bescherte. Autorin T Kira Madden verneint die Frage des kathartischen Schreibens eindeutig. Das ist eine Sichtweise, Ihre eigene ist möglicherweise ganz anders? Ich bin gespannt darauf.

Unser Kurs “Das (auto)biographische Experiment” lässt Sie mit Fotos, Erinnerungsstücken und Texten experimentieren. Es gibt ihn in der Version als Selbstlernkurs oder als begleiteter Online-Kurs. 

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