Mutter und Tochter: Die Story ist im Speed-Writing entstanden. Das gibt es bei uns auf Nachfrage.
David Betzing studiert Germanistik in Heidelberg
Ein Lichtstrahl fiel hinein
„Mutter“, rief Lavia. „Wo bist du?“
Sie eilte zum nächsten Raum. In ihrer Hosentasche spürte sie den Brief.
„Mama?“, rief sie erneut.
Sie schaute in den Raum und sofort war ihr klar, dass ihre Mutter nicht hier war. Lavias Blick fiel auf das Bett, das unter einem schmalen Fenster stand. Ein Lichtstrahl fiel hinein und beleuchtete ein zerwühltes Laken in reinem Weiß.
Der Muff des Alters
Die Tochter ging hinüber und strich das Plumeau glatt. Sie hielt ihre Nase daran. Das Parfüm ihrer Mutter strömte heraus. Schwer. Früher war es einmal betörend gewesen. Ein weiterer Geruch mischte sich dazu. Das war der Muff des Alters. Das untrügliche Zeichen dafür, dass ihre Mutter in aller Ruhe ihre Rente hier in ihrem Leuchtturm verbrachte.
„Wieder einmal lässt du nichts so, wie ich es hinterlassen habe“, tönte es da von der Tür aus.
Lavia drehte sich um.
„Mutter!“, rief sie. „Du bist hier!“
„Wo denn sonst?“, gab die alte Dame zurück.
Sie hielt sich an den Türpfosten gestützt. Sie verlagerte ihr Gewicht auf das rechte Bein, um den Schmerzen im Knie zu entgehen.
Ihr Rücken war vor Schmerz gebeugt
Die Mutter bemerkte den prüfenden Blick Lavias und versuchte, sich gleichmäßig hinzustellen. Ihr Rücken war vor Schmerz gebeugt, auch wenn sie ihn permanent durchdrückte. Die Haare waren verfilzt, die Haut fahl, voller Falten.
Die Tochter setzte sich auf das Bett, wobei sie für ihre Mutter Platz ließ.
Ihre Mutter schlurfte zu ihr herüber. Sie setzte sich nicht, sondern stellte sich unschlüssig vor das Bett. Lavia schaute auf den Boden. Sie knetete ihre Finger. Ihr Herz schlug ungleichmäßig. Sie konzentrierte sich auf ihren brüchigen Atem.
„Mutter“, setzte Lavia an. „Ich habe da etwas“, sagte sie. Mit der linken Hand fuhr sie mechanisch durch ihre Haare und rieb dann ihren Nacken.
Ihre Mutter wurde blass
»Ich bin hier, weil ich einen Brief erhalten habe.“
Ihre Mutter wurde blass. Sie ließ die Arme hängen. Ihr Körper sackte zusammen und ein Seufzer entwich ihr.
„Das war zu früh. Hast du den Brief gelesen?“, fragte ihre Mutter.
„Sonst wäre ich nicht hier.“
Ihre Mutter schwieg. Ihre Augen waren in die Ferne gerichtet.
Lavia sammelte sich.
„Mama“, fragte sie, „warum willst du sterben?“
Ihre Mutter schaute sie an.
„Ich bin alt, allein“, sagte sie, um wieder zu verstummen.
Vor dem Fenster flog krächzend ein Rabe vorbei.
Eine unsichtbare Kraft
Lavia wollte aufstehen und zu ihrer Mutter hinübergehen, sie in den Arm nehmen. Eine unsichtbare Kraft hielt sie zurück.
„Hast du auch die Tabletten entdeckt?“, fragte die Mutter.
Lavia nickte erneut. Sie hatte sie in der Küche gefunden und eingesteckt. Ihre Mutter seufzte.
„Ach Lavia, meine Schöne, meine Große. Klein bist du schon lange nicht mehr. Du bist selbstständig. Irgendwann wirst du einsehen müssen, dass diese Unabhängigkeit etwas Wertvolles ist, denn du kannst sie wieder verlieren. Sie wird dir gestohlen, von der Zeit. Sieh mich an. Ich bin unbrauchbar geworden. Kann nichts mehr aus eigenem Antrieb machen. Das ist es, was ich mir lange nicht habe eingestehen wollen.“
Das kleine Döschen
Ihre Tochter schaute konsterniert an ihr vorbei. Konnte sie ihre Mutter aufhalten? Wollte sie das überhaupt?
„Du hast dich aufgegeben“, meinte sie.
„Nicht aufgegeben. Ich habe erkannt, dass es für mich an der Zeit ist zu gehen.“
Lavias Hand fuhr in ihre Hosentasche und umschloss das kleine Döschen mit den Tabletten. Das war es, was ihre Mutter noch vom Tod trennte. Sie hatte die Macht darüber.
Ihre Mutter kam zu ihr herüber, setzte sich und legte Lavia vorsichtig eine Hand auf das Knie.
„Willst du mir helfen?“, fragte sie.
Gänzlich unvorbereitet
Bei dem Gedanken daran wurde Lavia schlecht. Sie hatte geahnt, was auf sie zukommen würde, und doch war sie gänzlich unvorbereitet.
„Lass uns am Meer spazieren gehen“, meinte ihre Mutter. Sie stand auf. Langsam und in kleinen Schritten ging sie aus dem Zimmer, um sich für draußen anzuziehen.
Lavia blieb auf dem Bett sitzen. Sie sank in ein Loch und fühlte sich immer tiefer fallen.
Schließlich stieg sie doch die Wendeltreppe hinab, stieß die Tür auf und wurde von der wilden Natur empfangen, stark und ungezähmt. Der Wind riss an ihren Haaren. Der salzige Geruch des Meeres umspielte ihre Nase. Hinter dem Dünengras fiel eine Steilklippe hinab bis zum Wasser. Der Ozean donnerte dagegen. Bis zum Horizont zog er sich hin.
„Das ist Freiheit, nicht wahr?“, fragte ihre Mutter. Sie stellte sich lächelnd neben sie.
Lavia sagte kein Wort.
Lavia fiel ein Boot ins Auge
Sie gingen einen gewundenen Pfad entlang, der die Klippe hinabführte. Unten in der Bucht angelangt, fiel Lavia ein Boot ins Auge, das im Sand lag.
„Wozu hast du das hier?“, fragte Lavia.
„Ich wollte auf das Meer hinausfahren und dort in der Unendlichkeit aufgehen“, sprach ihre Mutter.
Lavia nickte. Ihre Mutter zitterte.
„Verstehst du jetzt? Ich kann und will nicht mehr. Und wenn du mir nicht helfen willst, dann lass es mich alleine tun.“
Sie weinte. Sie wollte ihr Leben beenden, doch lag es nicht in ihrer Gewalt. Die Tränen fielen in den Sand und auf Lavias Seele.
Die Tablettendose wog schwer
Das Tablettendose wog schwer in ihrer Hosentasche.
Lavia fasste ihre Mutter an den Schultern. Der zarte Körper war so gebrechlich. Doch aus ihren Augen sprühten Trotz und bittere Entschlossenheit.
Lavia schluckte. Sie biss sich auf die Unterlippe. Ihre Gedanken waren wirr. Das Brausen des Ozeans war für einen Moment verstummt. Lavia kamen die Tränen, aber die Beklemmung in der Brust wollte nicht gehen. Sie sah ein, dass sie den Willen ihrer Mutter nicht ändern konnte. Es war nicht an ihr, darüber zu bestimmen. Schließlich ließ Lavia ihre Mutter los.
„Deine Entscheidung ist endgültig?“, hakte Lavia nochmals nach.
Ihre Mutter nickte.
Dich wollte ich immer stolz machen
„Dann will auch ich gehen. Auf mich wartet niemand. Ich habe keine eigene Familie gegründet. Ob hier oder in der Ferne, du warst der Inhalt meines Lebens. Dich wollte ich immer stolz machen. Lass uns wenigstens am Ende Mutter und Tochter sein.“
Das Brausen des Ozeans setzte wieder ein. Ihre Mutter wandte sich ab.
„Wir standen uns nie wirklich nahe, oder?“, fragte sie.
Lavia nickte.
Die Hände ihrer Mutter zitterten.
„Du sollst eine Sache wissen. Egal, wie weit und lange du weg warst, ich war immer stolz auf dich.“
„Ich weiß, Mama, ich weiß. Und ich habe meine Entscheidung getroffen. Ich glaube, es ist alles gesagt.“
Ihre Mutter lächelte. Das erste Mal heute.
Im Sommer geht hier die Sonne nie unter
Sie sagte: „Weißt du, im Sommer geht hier die Sonne nie unter. Und da ich nun die ewige Dunkelheit gewählt habe, soll mich das Licht möglichst lange begleiten.“
Lavia schaute in den Himmel. Der Wind war warm, wunderschön. Auch sie lächelte.
„Uns begleiten.“
Ihre Mutter nickte. Sie legten die Hände um ihre Nacken. Sie schlossen die Augen. Ihre Köpfe fielen nach vorne und berührten sich gegenseitig. Jeder Atemzug war hörbar. Lavia glitt das Döschen aus ihren Fingern. Die Brandung umspielte ihre Füße. Sie waren frei.
Foto: Annie Spratt