Fladenbrot ist im Speed-Writing entstanden. Ernst Steffani wurde 1985 in Hamburg geboren. Nach einigen Jahren im Ausland lebt er in Berlin, ist selbständig und versucht sich an einer Promotion über nachhaltige Geschäftsmodelle. Aber eigentlich ist er am liebsten zusammen mit seinem Notizbuch irgendwo in der Welt unterwegs.
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Fladenbrot
Nora genoss diesen Moment. Die Nacht war vorbei. Der Morgen graute und sie stand erschöpft, aber seltsam erleichtert irgendwo auf einer Straße in Kreuzberg, vor einem dieser niemals schließenden, stetig vor sich hin vibrierenden Kellerclubs. Langsam fing sie an, ihre Sinne wieder wahrzunehmen. Sie schmeckte die frische Morgenluft. Sie fühlte, wie diese ihren schwitzenden Körper angenehm kühlte. Für heute war es genug. Sie spürte bereits, dass die Wirkung des Ecstasy nachließ.
Kreuzberg wie sie es liebte
Sie drehte sich um und schlenderte Richtung U-Bahn-Station. Vor ihr lag Kreuzberg wie sie es liebte. Die Läden und Restaurants waren geschlossen. Noch schliefen die Bewohner. Nur hier und da sah man einige Menschen, vor allem ältere Türken oder Araber, die bereits mit Taschen oder Wägelchen Richtung Markt zum Einkaufen gingen. Sonst ließ sich hier in Kreuzberg an diesem frühen Samstagmorgen niemand blicken und Nora genoss es, alleine und völlig frei die Straße hinunterzulaufen. Heute war ihr freier Tag. Ausnahmsweise. Es war Zufall, dass dieser genau auf einen Samstag fiel. Sie war Ärztin für Innere Medizin an der Charité. Seit über fünf Jahren, und emsig dabei, Überstunden um Überstunden anzuhäufen und sich in einem Chaos von Postengerangel, Schlafmangel, und nervtötendem Schichtdienst zu verlieren. Ganz abgesehen von den Beziehungsdramen.
Arztberuf und Beziehung waren einfach nicht kompatibel, das war ihr mittlerweile in Fleisch und Blut übergegangen. Sie war Single und blieb Single. So war das. Umso mehr freute sie sich über die letzte Nacht. Über die spontane Feierei mit ihrer besten Freundin Melanie. Dafür hatte sie ihr Tinder-Date einfach versetzt. Aber das gehörte sowieso zum Spiel dazu. Sie schmunzelte. Es war ein abartiges Spiel, dieses Tinder-Ding. Und eine Nacht Elektro und Ecstasy war es allemal wert gewesen.
Der Geruch von frisch gebratenen Shawarma
Der Geruch von frisch gebratenen Shawarma holte sie zurück auf das Kreuzberger Kopfsteinpflaster. Sie verspürte Hunger. Ihr ausgelaugter Körper schrie nach etwas Nahrhaftem. Kurzerhand bestellte sie ein Falafel-Halloumi-Sandwich, ohne Zwiebeln und Knoblauch, nur mit der milden Kräuter-Mango-Sauce. Zu spät merkte sie, dass es heute eigentlich egal war. Sie würde ja alleine schlafen. Und erst morgen früh um sechs Uhr wieder in der Klinik sein. Egal, Zwiebeln und Knoblauch hin oder her. Sie wollte jetzt nicht an nachher oder an morgen denken. Lieber an den Club, an das Wummern der Bässe, an die Energie, die sie verspürte, wenn der DJ die Beats schneller und schneller werden ließ, und sie wie in Trance ekstatisch immer weiter tanzen konnte.
Das Restaurant schien geschlossen
Das Falafel-Sandwich lag warm und duftend in ihrer Hand. Gierig biss sie hinein. Links und rechts quoll die Sauce hervor. Es tropfte auf ihre schwarzen Turnschuhe. Schnell wischte sie die Sauce weg. Zurück blieb ein kleiner, blass grauer Fleck. Nora runzelte die Stirn. Sie guckte sich nach einem Sitzplatz um und erblickte eine Reihe von Korbstühlen, die wohl zu einem Restaurant gehörten, direkt am Platz der U-Bahn-Station. Das Restaurant schien geschlossen. Aus den Augenwinkeln sah sie einen arabischen Schriftzug. Umso besser. Sie würde hier sowieso nur kurz das Sandwich aufessen. Als sie in den Halloumi biss, quietsche dieser, als ob sie auf altem Gummi herum kaute. Es war bemerkenswert, dass alle Welt diesen Käse so feierte. Wenn er frisch frittiert war, schmeckte er tatsächlich etwas knackiger. Auch die Falafel war trocken und bröselig. Aber das machte nichts. Immerhin stillte es ihren Hunger. Und beim nächsten Mal würde sie direkt nach Hause gehen und dort etwas Obst essen und Kräutertee trinken. Das nahm sie sich zumindest vor. Wie jedes Mal. Nein, sie war keineswegs jemand, der auf ihre Figur achten musste, aber es war schon so, dass mit jedem weiteren Nachtdienst, mit jeder weiteren Falte, die sie in ihrem Gesicht entdeckte, ihr Bedürfnis nach frischem und gesundem Essen zunahm. Als ob sie sich damit ihre Jugend, ihre frische Unbekümmertheit zurückholen könnte. Trotzig und noch ein bisschen schneller schlang sie die letzten Sandwichbissen hinunter. Sie merkte nicht, wie Fatuma an ihren Tisch trat, und ihr ein Glas dampfenden Tee hinstellte. Fatuma, so stand es zumindest auf ihrer Bluse, lächelte ihr gewinnbringend zu. „Möchtest Du was essen? Die Küche ist zwar noch geschlossen, aber das Fladenbrot haben wir schon gebacken. Und ich kann Dir dazu Joghurt und Honig bringen“
Schließlich fand sie sie
Nora schüttelte schnell den Kopf und blickte dabei schuldbewusst auf die Salatreste und Saucenkleckse, die sich vor ihrem Stuhl auf dem Boden ausgebreitet hatten.
Aber mit einem verzagten Lächeln akzeptierte sie stumm den Tee. Ihr war eigentlich ganz und gar nicht danach, hier sitzenzubleiben. Aber sie fühlte, sie durfte den Tee jetzt nicht ablehnen. Schon hatte sich Fatuma wieder umgedreht und war lautlos im Inneren des Restaurants verschwunden. Noras Blick versuchte, ihr durch die riesigen, teilweise beschlagenen Fenster zu folgen. Schließlich fand sie sie. Sie hatte sich nach ganz hinten gesetzt, an einen vollbesetzten Tisch, auf dem ein Korb mit frisch dampfendem Fladenbrot stand. Drumherum standen lauter Schalen mit Joghurt, Honig und Humus. Alle saßen sie da. Aßen, lachten und plapperten. Es schien eine große Familie zu sein. Der Vater saß vorne. Die jungen Söhne, zwei waren es, auf der Bank an der Wand, und die drei Töchter, allesamt älter und vorschriftsmäßig in Kopftuch und lange Kleider gehüllt, auf den anderen Plätzen. Nur die Mutter war nicht zu sehen. Vielleicht stand sie hinten in der Küche.
Flink griffen die Hände nach dem Fladenbrot
Fasziniert wanderte Noras Blick zurück zu den weiß strahlenden und tatsächlich gestärkten Kopftüchern der Töchter. Aus irgendeinem Grund freute sie sich darüber. Vielleicht weil sie so kleidsam waren und die Gesichter der Mädels, die allesamt sorgfältig geschminkt waren, so hübsch betonten. Flink griffen die Hände nach dem Fladenbrot, rissen ein Stück ab und tunkten es in die Saucen. Es war ein kleines großes Durcheinander. Dazu tranken sie alle heißen, süßen Tee. Fast konnte sie das Schlürfen hören. Und lächelnd nippte Nora ebenfalls an ihrem Tee. Es war ein schöner Moment. Als sie merkte, dass Fatuma sie beobachte, wandte sie sich ab. Ganz automatisch griff sie nach ihrem Smartphone. Keine Chance. Der Akku war ja leer. Also drehte sie sich eine Zigarette.
Auch die mit Kopftuch?
Gerade als sie sich die Zigarette anzünden wollte, legte Fatuma ihr von hinten die Hand auf die Schulter. Nora zuckte zusammen. „Du darfst hier nicht rauchen.“
Trotzdem stellte sie ihr lächelnd ein Aschenbecher hin.
„Du siehst müde aus.“ „Warum bist Du schon wach? Oder sollte ich besser sagen, warum bist noch wach?“ Fatuma grinste spitzbübisch.
„Ich war feiern“, erwiderte Nora, fast trotzig. „Hier um die Ecke, der Laden heißt OHM. Kennst Du den Club?“
„Nein, nein“, sagte Fatuma. Wieder lächelte sie. Dieses Mal etwas zurückhaltender. „Das ist nichts für mich.“
„Warum? Alle können dort hingehen.“
„Wirklich alle? Auch die mit Kopftuch?“
Nora wusste nicht, was sie antworten sollte.
Aus Kurdistan
„Ist schon gut, ich mag eure Musik sowieso nicht.“
„Woher kommst Du denn?“, fragte Nora.
„Aus Kurdistan!“
„Kurdistan? Das gibt es doch gar nicht.“
„Bei uns schon“, erwiderte Fatuma und lächelte wieder. Es war ein herzzerreißendes Lächeln und Nora zog glücklich an ihrer Zigarette.
„Lass gut sein, aber Du hast ja Recht, diese Elektromucke ist speziell. Aber für mich, für mich ist diese Musik pure Freiheit. Es ist die wahre und einzige Freiheit. Ich kann mich dabei mega entspannen. Und da unten in den Katakomben dieser Clubs gibt es dann kein Halten mehr für mich. Ich kann mich richtig gehen lassen“
Fatuma hörte ihr fasziniert zu und vergrub dabei ihre Hände in den Taschen ihres langen, nach der muslimischen Vorschrift geschnittenen Kleides. Genau wie Nora es tat, wenn sie ihren Arztkittel trug und ihren Patienten zuhörte.
Nora verstummte. Der Vergleich machte sie stutzig. Trotzdem gab sie sich einen Ruck und fragte Fatuma:
„Und du? Gehst Du nie feiern?“
„Nein, ich muss arbeiten.“
„Jeden Tag?“
„Ja, jeden Tag, fünfzehn Stunden am Stück.“
„Wirklich?“
„Ja, aber, es ist wirklich nicht so schlimm. Das ist meine Familie hier. Meinem Vater gehört das Restaurant. Und ich genieße es, hier zu sein, Zeit mit meiner Familie zu verbringen. Ich liebe dieses Restaurant. Hier bin ich aufgewachsen.“
„Und weißt Du“, Fatuma nahm flink Nora die Zigarette aus der Hand und zog gierig selbst daran, „irgendwann werden die Semesterferien auch wieder vorbei sein“. Sie atmete den Rauch aus und zwinkerte Nora dabei vielsagend zu.
Ein toller Job
Nora lächelte.
„Du studierst?“
„Ja, Medizin in Göttingen. Und Du? Was machst Du hier in Berlin?“
„Ich bin Ärztin, an der Charité.“
Fatumas Augen wurden groß und leuchteten. „Wirklich? Wow, es ist mein Traum, dort zu arbeiten. Was für eine tolle Stelle. Und wie spannend. Gefällt es Dir?“
Nora antwortete nicht. Sie biss sich stattdessen auf die Zunge. Eigentlich vermied sie es, anderen Leuten von ihrem Job zu erzählen. Schließlich drückte sie ihre Zigarette aus, stand auf und erwiderte: „Ja, doch, es ist ein toller Job. Jetzt muss ich aber los. Was bekommst Du für den Tee?“
„Ach nichts, der geht auf das Haus. „Aber warte, einen Moment, ja?“
Das warme, duftende Fladenbrot
Fatuma rannte schnell hinein und kam augenblicklich mit einer Plastiktüte zurück. „Hier, nimm das mit für später, Du wirst nachher hungrig sein.“ Und wieder lächelte sie Nora mit entwaffnender Offenheit zu.
Nora wollte ablehnen, aber es war zwecklos. Fatuma und ihrem strahlenden Lächeln konnte sie sich einfach nicht widersetzen.
Schließlich bedankte sie sich und verschwand dann zügig, ohne sich noch einmal umzuschauen, Richtung U-Bahn.
Als Nora in der U-Bahn die Tüte in Augenschein nahm und aus der Alufolie das warme, duftende Fladenbrot wickelte, lächelte sie.
Arbeit hin oder her
Was für eine Nacht. Und was für ein Abschluss.
Und plötzlich wusste sie, dass sie noch nicht schlafen gehen konnte. Nicht, bevor sie ihre Mutter angerufen hatte. Als sie zuhause war, tunkte sie das Brot in den Honigtopf. Arbeit hin oder her. Es war höchste Zeit mal wieder ihre Mutter zu besuchen.
Foto: Spencer Davis (Unsplash)