Essay: Woher stammt das Genre?
Es gab einmal, in grauer Vorzeit, genauer gesagt zu Zeiten der Renaissance, einen Herrn, der sich von seinen öffentlichen Aufgaben als Bürgermeister der Stadt Bordeaux und als Richter entbinden ließ (und natürlich genügend Geld besaß, klar, er war ja auch ein Adliger). Er hieß Michel de Montaigne. Das war 1571, war er zwar erst 38 Jahre alt, aber er hatte ja auch noch Großes vor. Er nahm viel Geld in die Hand und baute sich einen Turm (sonst hätten ihn seine Frau und die Kinder, die überlebten, ihn beim Schreiben gestört) und dorthin zog er sich zurück und erfand diese Form: Den Essay. Das Wort schreibt man im Französischen mit einem i am Ende. Essayer – auch französisch, aber mit y – heißt: versuchen.
Genau darauf ließ sich der kluge Herr ein – er „versuchte“ sich in seinen Essays an ganz allgemeinen Themen. Er schrieb über Politik natürlich, über die Kindererziehung und über Beziehungen, das Gute und das Böse, über das Gewissen und Gott, über das Laster und die Vernunft. Scheinbar unsystematisch und ohne Beschränkung. Dennoch wurden die Essays weltberühmt und begründeten diese Gattung. Was wir vor allem in seinen Texten erkennen, ist der Vorgang des (assoziativen) Denkens, ist die Faszination, wie Klarheit entsteht – es ist das Denken selbst. Er dachte auf eine umfassende, zum Teil chaotische Weise, aber er war höchst produktiv, innovativ und vor allem: originell. Man könnte fast meinen, dass Immanuel Kant seinen Ausspruch „Habe den Mut, dich deinen eigenen Verstandes zu bedienen“ aus diesen Essays geholt hat.
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Der Geistesblitz – auch für Sie
Sie müssen nun nicht unbedingt Montaigne lesen, obwohl das keinesfalls schadet, aber Sie sollten folgende Umstände für Ihr eigenes Schreiben bedenken:
- Schaffen Sie sich einen Platz, an dem Sie in Ruhe schreiben können (es muss ja nicht gleich ein Turm sein).
- Sehen Sie Ihr eigenes Schreiben als Versuch an. Als den Versuch, Ihr Thema zu begreifen und ihm eventuell einen neuen Aspekt, eine neue Idee hinzu zu fügen.
- Begreifen Sie sich als Reisende/n, der sein eigenes Denkvermögen kennen lernt (und das kann sehr glücklich machen, glauben Sie mir das).
- Haben Sie Mut, sich Ihres eigenen Verstandes zu bedienen. Denn das ist es, was auch der heutige Essay von Ihnen verlangt.
- Denken Sie selbst und äußern Sie originelle Thesen. Wenn nicht sofort, so wird das Leben es Ihnen danken.
- Verstehen Sie das Schreiben als eine effiziente Art des Denkvorgangs. Sozusagen als einen verlängerten Denkprozess, der erst Ihnen zu Klarheit und zu eigenen Thesen verhilft.
- Meinen Sie nicht, Sie müssten schon VOR dem Schreiben wissen, was Sie schreiben. Vertrauen Sie darauf, dass Sie im PROZESS des Schreibens schreiben und denken lernen.
Gebrauchsanleitung für das Überleben
Ein in der anglophonen Welt bekannterer Essayist – in der Nachfolge Montaignes, ist Francis Bacon.
Bacon verstand die Essays als eine Art Gebrauchsanleitung für das Überleben des Einzelnen in der Gesellschaft: Der Mensch sollte sich anpassen und verbessern können, getreu der Formel: »Das Benehmen der Menschen sei wie ihre Kleidung, nicht zu eng oder zu knapp, sondern mit Raum zu Bewegung und Übung.« (Quelle: Suhrkamp Verlag).
Dass man während des Schreibens bzw. während des Überlegens durchaus Geistesblitze erleben kann, möchte ich Ihnen nicht vorenthalten. Jean-Jacques Rousseau ist das passiert, als er über die Frage der Akademie von Dijon nachdachte: “Hat das wiederaufleben der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen?” Als Antwort erwartete die Akademie einen Essay. Aus dem Geistesblitz entstand später der Contrat social und Rousseaus Auffassung, dass alle Menschen gleich geboren seien. Dies beschäftigt uns ja auch noch heute. Lassen wir mal dahingestellt, ob er das auch auf Frauen anwenden wollte, aber damit war er ein gemachter Mann. Er beschreibt die Wirkung der Frage der Akademie auf ihn folgendermaßen:
“Im Augenblick, als ich die Frage las, sah ich eine andere Welt und wurde ein anderer Mensch… All meine kleinen Leidenschaften wurden von der Begeisterung für die Wahrheit, die Freiheit, die Tugend erstickt, und noch erstaunlicher ist, dass diese Erregung mehr als vier oder fünf Jahre in meinem Herzen anhielt, und zwar in einem so hohen Grade wie vielleicht niemals zuvor in dem Herzen eines anderen Menschen.”
(nachzulesen in seinen Confessions oder hier)
Rousseau empfand die Frage als “eine der großen und der schönsten Fragen, die jemals aufgeworfen wurden.” Also müssen sich auch die Heutigen Fragen stellen, die Geistesblitze ermöglichen.
Carolin Emcke ist eine Frau, die mit ihren Essays ebenfalls berühmt geworden ist. Und sie ist dabei hoch modern, man könnte sogar sagen: ihrer Zeit voraus. 2018 hat sie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten. Genauso wie noch mehr Preise. Grundlage für ihre Bekanntheit ist ihr Essay-Band “Über das Begehren”. Doch sie schreibt auch über den Krieg und unsere Sprachlosigkeit. Und über vieles mehr.
Darüber hinaus gibt es viele Autorinnen, die sich in dem Genre tummeln: Christa Wolf, Hannah Arendt, Sri Hustvedt, Marieluise Fleißer, Patrick Süskind, John Berger, Eckhard Henscheid u.v.m. Auch Arbeiten von ihnen werden wir in unserem Seminar zum Essay als Beispiele nutzen.
Da wir der Meinung sind, dass unsere aktuelle Zeit Geistesblitze benötigt, haben wir einen
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