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Die Zeit, die Zeit II: Was ist das epische Präteritum?

episches Präteritum

Was ist das epische Präteritum?

Das epische Präteritum kann einen zum (Ver)Zweifeln bringen. Es ist ein spezielles Phänomen der Literatur.  Denn da schreiben wir nicht genauso, wie wir im wirklichen Leben erzählen. Meist schreiben AutorInnen im Präteritum, das aber – anders als in der Normalsprache – damit keine Vergangenheit ausdrückt. Sondern im Gegenteil: es simuliert eine Gegenwart. Käte Hamburger legte dieses Phänomen 1957 in „Die Logik der Dichtung“ dar. Es ist an sich ja paradox, dass die Literatur durch eine Vergangenheitsform, das Präteritum, eine Gegenwart imitiert. Darüber gab es natürlich immer wieder Streit. Ich aber schließe mich der Interpretation Käte Hamburgers an. Denn wir lesen die Geschichten, die im Präteritum erzählt sind, so, als würden sie jetzt, gerade eben, stattfinden.

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Spiel mit der Fantasie der Leser

Das ist ein Spiel mit der Fantasie der Leser in einer Tradition, die aus dem Märchen kommt. Die Formeln „Es war einmal“ oder „sie lebten glücklich bis an ihr Lebensende“ bringen schon Kindern bei, dass es bei erzählten Geschichten um eine andere Zeit geht.  Und damit um ein anderes Zeiterleben als in der „normalen Sprache“. Diese Formeln wiegen uns einerseits in der Sicherheit, dass wir nicht direkt betroffen sind und eröffnen andererseits die Bühne, auf der wir die Schicksale mit erleben können. Sie halten die Schwebe zwischen möglicher Vergangenheit und erlebter (innerer) Gegenwart. Denn wir erleben – trotz der Vergangenheitsformen in der Literatur – in unserer Vorstellung die Geschichten so, als würden sie gerade passieren. Dieses Als ob öffnet uns das Tor dazu, uns auf die Geschichten einzulassen.

Die Schwebe zwischen Wirklichkeit und Erfindung

Denn Literatur ist ein Spiel, das uns in die Schwebe zwischen Wirklichkeit und Erfindung bringt. Es ermöglicht uns, in einer Art Parallelwelt Empathie zu empfinden, Trauer, Liebe, Angst und Freude. Und es stellt Möglichkeiten vor, wie andere Menschen Entscheidungen treffen. Es lässt uns viele mögliche Leben leben.

Wie bei Rotkäppchen

So können wir sogar als Kinder dem Märchen vom Rotkäppchen folgen und aushalten, da wir uns in der Schwebe befinden, dass ein Wolf ein Kind verschluckt. Wir können es dann auch aushalten, dass – wie bei Rotkäppchen – der Wolf das Kind lebendig wieder hergibt. Zumindest in der deutschen Fassung. Im französischen “Le petit chaperon rouge” wird das Mädchen gefressen – und damit endet die Geschichte.  “Et en disant ces mots, ce méchant loup se jeta sur le petit Chaperon rouge, et la mangea.” (Als der böse Wolf diese Worte aussprach, stürzte er sich auf das Rotkäppchen und aß es auf.) Doch geht es hier weniger um interkulturell unterschiedliche Grausamkeiten im Märchen.

Glückskind mit Vater

Zurück zum eigentlichen Thema: das epische Präteritum. Ich zeige das am Beispiel des Beginns von Christoph Heins „Glückskind mit Vater“:

„Die jungen Birken schienen miteinander zu flüstern, ihre Blätter bewegten sich lebhaft, obwohl kein Wind zu spüren war. Unter der lastenden Sommersonne des Spätnachmittags leuchtete das gebrochene Weiß der dünnen, verletzlich wirkenden Stämme aufreizend hell. Die Birken mussten jetzt drei Jahre alt sein und waren fast mannshoch. Sie erinnerten mich an ein Bild in unserem Schulzimmer, an eine Landschaft, die ein russischer Maler aus dem vergangenen Jahrhundert gemalt hatte.“

Die farblichen Hervorhebungen stammen von mir. Orange ist Präteritum – das epische Präteritum, das durch das kleine Wörtchen „jetzt“ noch einmal verdeutlicht wird. Also ist diese Situation in der Fantasie der Leser, obwohl Christoph Hein sie im Präteritum schildert, eine (simulierte) Gegenwart. “Jetzt” verbinden wir in der Normalsprache mit der Gegenwart, mit dem, was gerade im Moment passiert.

Wir erleben beim Lesen die Situation im Birkenwald, als würde sie gerade stattfinden. Und das, obwohl sie im (epischen) Präteritum geschrieben ist.

Insofern erklärt sich das Paradox, dass in der Literatur Sätze wie „Morgen war Weihnachten“ möglich (und akzeptiert) sind; hören wir in einer normalen Situation einen solchen Satz, denken wir, der Sprecher hat ein Bierchen zu viel intus.

Das ist ein wesentlicher Unterschied zwischen der Vergangenheitsform in der normalen Sprache und in der Literatursprache.

Zeitformen innerhalb einer Erzählung

Christoph Hein zeigt uns darüber hinaus, dass aber die Zeitformen innerhalb einer Erzählung ebenso voneinander abhängen wie beim normalen Sprechen. Er beendet seinen Abschnitt mit einer Erinnerung an ein Bild, das ein „russischer Maler aus dem vergangenen Jahrhundert gemalt hatte“. Hein sagt weder: „das ein russischer Maler malte“ noch: „das ein russischer Maler gemalt hat.“ Das Präteritum („malte”) würde hier die (simulierte) Gegenwart implizieren, das Perfekt („gemalt hat“) ist nicht möglich, weil die Erinnerung eben von der im Präteritum erzählten Gegenwart ausgeht, einen abgeschlossenen Vorgang beschreibt und deshalb logisch (nun ja, paradox logisch) die vorherige Zeitform, also das Plusquamperfekt nutzen muss.

Immer wieder haben angehende AutorInnen Schwierigkeiten mit den Zeitformen.

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Foto: Valeriy Andrushko (Unsplash)

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