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Rainer Güllich

Die Warnung – von Rainer Güllich

Dieser Text von Rainer Güllich ist im Themen-Special “Speed-Writing” entstanden. Das gibt es bei uns auf Nachfrage.

Die Warnung – eine Kurzgeschichte von Rainer Güllich

Keiner wusste zu sagen, wo er plötzlich hergekommen war. Auf einmal saß er da. Er hatte sich ohne ein Wort zu sagen an den Tisch gesetzt. Hinter seinem Kopf flatterten die roten und blauen Wimpel, die über das Deck gespannt waren. Das Gesicht war weiß geschminkt mit blutrotem Mund, dunkel umrandeten Augen und einer hellblauen Träne unter dem rechten Auge. Ein trauriger Clown. Er passte aber in die Gesellschaft, denn viele der Passagiere waren ebenfalls kostümiert. Maskenball war angesagt an Bord. Das Luxusschiff war seit einigen Tagen auf See, um keine Langeweile aufkommen zu lassen, musste man den Passagieren etwas bieten.

Die See war unruhig, die Schiffsmotoren liefen volle Kraft, der Bug des Schiffes durchschnitt die Wellen.

Rechtsanwalt Cordes, Direktor Momberg und deren Ehefrauen, die am Tisch saßen, sahen sich erstaunt an. Doch bevor einer von ihnen etwas sagen konnte, sprach der Fremde. „Guten Abend, ich sehe, Sie sind überrascht, dass ich aus heiterem Himmel erscheine und ungefragt hier Platz nehme. Ich hoffe, Sie nehmen es mir nicht übel. Es ist wichtig, dass ich mit Ihnen rede, ich hoffe, Sie schenken mir Gehör.“

Frau Momberg, eine resolute Dame um die sechzig, fasste sich als Erste. „Guter Mann, mich haben Sie jedenfalls durch Ihren überraschenden Auftritt neugierig gemacht. Ich denke, meinem Gatten wird es ähnlich gehen. So ist es doch, Robert?“ Sie wendete den Kopf. Ihre goldenen Ohrringe blitzten im Licht. Sie griff nach ihrer Halskette und ließ deren Perlen durch ihre Hand gleiten.

Direktor Momberg drehte seinen Kopf zur Seite und sah seine Frau an. „Du hast natürlich recht, Liebes.“ Er drehte sich zu dem Clown um. “Sagen Sie was Sie zu sagen haben. Vorausgesetzt unsere Freunde sind einverstanden.“

Rechtsanwalt Cordes nickte zustimmend und schob sich die Brille höher. Dort wo sie gesessen hatte, war eine leichte Rötung der Nase zu sehen. Seine Frau hob die Augenbrauen und griff sich an ihren mit Straußenfedern verzierten Hut. Auch sie nickte.

„Noch eines.“ Direktor Momberg hob warnend einen Finger. „Ich hoffe, dass Ihr Erscheinen nichts mit dem Maskenball zu tun hat und Sie uns irgendeinen Spaß verderben wollen.“

Der Clown schüttelte den Kopf. „Mein Auftritt hat mit dem Bordfest nichts zu tun. Es gibt auch keine Verbindung zur Reederei oder zu sonst wem hier an Bord. Ich habe lang überlegt, ob ich überhaupt in Erscheinung treten, oder dem Schicksal seinen Lauf lassen soll. Doch ich habe mich entschieden, in Ihr Geschick einzugreifen.“ Er drehte die Arme nach außen und öffnete die Hände. Er lächelte.

Cordes setzte an, um etwas zu sagen, doch Direktor Momberg bedeutete ihm mit einem Wink, zu schweigen.

Der Clown nahm beide Hände wie zum Beten zusammen. „Herr Cordes, Sie haben vielen Unschuldigen zu ihrem Recht verholfen und das oft unentgeltlich. Herr Direktor Momberg hat meist auf eigenes Risiko viele Schuldner seiner Bank unterstützt. Solches Verhalten ist in den heutigen Zeiten selten zu finden und sollte meiner Meinung nach belohnt werden. Ich möchte Sie retten.“

„Retten!? Wovor retten?“ Frau Momberg erhob sich von ihrem Stuhl, setzte sich aber gleich wieder.

Der Clown lächelte sanft. „Dieses Schiff ist ein Unglücksschiff. Es fährt seinem Untergang entgegen. In weniger als zwei Stunden wird es vom Meer verschwunden sein. Das ist es, was ich Ihnen sagen will. Es liegt an Ihnen, was Sie mit dieser Information machen. Vielleicht können Sie den Kapitän überreden, den Kurs zu ändern oder die Geschwindigkeit zu drosseln. Denn das würde genügen, das Schicksal des Schiffes und aller Menschen an Bord zum Guten zu wenden. Mehr kann ich nicht sagen und nicht tun.“ Ruckartig erhob sich der Mann im Clownskostüm von seinem Stuhl und verschwand so plötzlich, wie er erschienen war im Niedergang zum Unterdeck des Schiffes.

Am Tisch herrschte sekundenlang Schweigen, das von dem Rechtsanwalt gebrochen wurde. „Was war denn das? Eine Halluzination oder ein Verrückter? Sie haben doch auch gehört, was er gesagt hat?“

Direktor Momberg nickte. „Natürlich. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ist es ein dummer Witz, doch ein Arrangement des Kapitäns, so als skurrile Einlage zum Bordfest. Oder war das einfach nur eine absonderliche Person?“

Clara Cordes, die sich noch nicht geäußert hatte, sagte: „Ich denke, dass wir es hier mit einem Menschen zu tun hatten, der sich einen Schabernack leisten wollte. Ich mag es nicht, wenn man mit mir solche Scherze treibt. Wir sollten jedenfalls kein Aufhebens davon machen. Man würde nur über uns und unsere Leichtgläubigkeit lachen.“

Ihr Ehemann zögerte kurz, dann meinte er: „Ich bin deiner Meinung, mein Schatz. Wir werden uns nicht echauffieren und werden schweigen. Ich nehme an, Ihnen ist dies genehm so.“ Mit den letzten Worten hatte er sich an Direktor Momberg und seine Frau gewandt.

Das Ehepaar war ebenfalls der Meinung, dass man einem Phantasten aufgesessen war und die Sache vergessen sollte.

Man schwieg und ließ sich von einem Steward die Mäntel aus der Kabine bringen, denn es war kälter geworden.

Neunzig Minuten später kollidierte das Schiff mit dem Eisberg und versank. Der Namen des Schiffes ging am nächsten Tag um alle Welt: Titanic.

Der Autor Rainer Güllich schreibt auch Krimis. Foto: Robert Zunikoff (Unsplash)


Hanne Landbeck

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