Friedel, der Universalreparierer – eine Kurzgeschichte von Jochen Witte
Friedel, der Universalreparierer
Friedel, der Universalreparierer ist im Online-Kurs Literarisches Schreiben entstanden.
Jochen Witte lebt im Ruhrgebiet und arbeitet an seinem ersten Roman
Friedel stand hinter dem Tresen seines neuen Ladens und blickte hinaus auf den Marktplatz. Wenn er später an die Eröffnung zurückdenken würde, dann wollte er sich an dieses Gefühl erinnern: dass etwas Neues beginne, dass alles möglich sei.
Auch die Natur hatte etwas zu feiern. Die kleinen Grasgebiete schmückte sie mit Blumen, die Bäume mit frischem Grün, den Himmel tünchte sie blau und auf die Äste setzte sie Vögel, die vom Frühling zwitscherten.
Gestern, zur offiziellen Eröffnungsfeier, waren alle erschienen, hatten auf seinen Rücken geklopft, an seine Schultern geknufft und ihm Glück gewünscht. Seine Großeltern, die ihm das Geld für die Werkstatt geliehen hatten, seine Mutter, die sich endlich damit abzufinden schien, dass er sein Studium aufgegeben hatte und neugierige Nachbarn, die sich in den letzten Wochen bestimmt gefragt hatten, was für ein eigenartiges Geschäft da eröffnen sollte: Mr. Fixit – Reparaturen aller Art?
Alle waren sie hier gewesen, alle bis auf Akki. Ein Teil von Friedel hatte nicht aufgegeben, hatte gehofft, dass er vielleicht doch noch käme. Aber der andere Friedel, der Wirklichkeits-Friedel, der seine Erwartungen immer unter den Enttäuschungspunkt abzusenken pflegte, hatte schon vorher abgewinkt.
Seit sie sich vor Monaten gestritten hatten, war Akki abgetaucht. Und Friedel war zu stolz gewesen, um den ersten Schritt zu tun. Eigentlich war es nur eine Bagatelle gewesen, aber dann auch wieder nicht. Ständig hatte Akki versucht, Friedel zu verkuppeln, ihm eine Freundin zu besorgen. Es stimmte schon, dass Friedel in Sachen Mädels alle Hilfe brauchte, die er kriegen konnte. Aber wenn Friedel im Beisein von Akki eine Frau ansprach, dann hieß es immer, nein danke, kein Interesse, aber wie wäre es mit deinem Freund da drüben? Was Frauen anging, lief Akki praktisch außer Konkurrenz.
Nicht dass Friedel hässlich gewesen wäre oder unattraktiv. Aber er sah unauffällig aus. Wer ihn sah, der vergaß ihn sofort wieder. Ganz praktisch für Geheimagenten, aber von Nachteil, wenn man Frauen beeindrucken wollte.
Jedenfalls hatte Friedel nicht mehr daran denken wollen, an seine Mädelhemmung, an die Art, wie sich die Worte in seinem Mund festklemmten, wenn er eine Frau sah, die ihm gefiel. Seine Schüchternheit war wie ein Gebrechen. Als wenn einer hinken würde. Friedel konnte bei Frauen nicht richtig auftreten, ein Gehfehler der Gefühle. Und wenn man der beste Freund von so einem Gehbehinderten war, dann sollte man ihn nicht ständig fragen: Na, wie geht’s deinem Bein heute? Oder, na, was machen die Mädels?
Friedel dachte, dass sich der Gehfehler schon irgendwann herauswüchse. Oder dass er verschwinden würde, wenn man nicht an ihn dächte. Er wollte seine Schüchternheit einfach vergessen. Dazu müsste er lange, wirklich sehr lange nicht mehr an sie denken. Aber Akki erinnerte ihn ständig daran.
Manchmal dachte Friedel, dass seine Freundschaft mit Akki ihm nicht gut bekäme. Aber er vermisste ihn dennoch. Sie kannten sich, seit sie Kinder waren. Natürlich vermisste er ihn. Er vermisste ihn, wie man seine Kindheit vermisst und dieses Gefühl, das ganze Leben sei ein Abenteuer und man selbst eine Art von Held.
Die Türglocke bimmelte und riss Friedel aus seinen Gedanken. Eine junge Frau betrat den Laden, schloss die Tür und schaute sich um.
Das blonde Haar war kurz geschnitten und strubbelte sich vom Kopf in alle Richtungen. Unter dem Schopf schauten blaue Augen aus einem hellen, sommersprossigen Gesicht. Ihr Körper steckte in einer abgewetzten Lederkluft und das nüchterne Schwarz des Leders widersprach der Sonnigkeit ihres Auftritts.
Friedel stand hinter dem Tresen, vor einer großen Regalwand. Darin warteten, in säuberlich beschrifteten Kästen, eine Unmenge an Ersatzteilen auf eine neue Verwendung. Friedel reparierte alles, egal ob Kaffeemaschine oder Espressoautomat, Toaster oder Wasserkocher, Herd, Kühlschrank oder Backofen, Mikrowelle oder Mikrocomputer, Räder, Roller oder Moped, mechanisch, elektrisch oder elektronisch. Und alles, was sich nicht mehr reparieren ließ, was eindeutig und unrettbar verloren war, zerlegte er in seine Bestandteile, auf dass es später als Ersatzteil in irgendeiner Gerätschaft einen neuen Nutzen entfalten möge.
Die junge Frau stand jetzt schon eine ganze Weile in der Nähe der Eingangstür und hatte alles in Augenschein genommen. Friedel hätte längst etwas sagen müssen, aber er hatte sich ganz in ihrer Erscheinung verhakt. Was sollte einer auch sagen, wenn eine Frau, die seiner Traumfrau verblüffend ähnelte, plötzlich in der Wirklichkeit auftauchte und ihn ansprach:
„Hallöchen!“
„Guten Morgen.“ Das klang etwas förmlich und wenn Akki jetzt hier gewesen wäre, hätte er bestimmt die Augen verdreht.
„Tagchen auch“, schob Friedel schnell hinterher.
Die Traumfrau ließ sich durch die Doppelbegrüßung nicht verwirren: „Hömma, kannste auch Mopeds?“
„Äh, wie jetzt, äh reparieren?“
„Nee, kaputt machen!“
„Wieso kaputt machen?“. Er wollte die Worte noch aufhalten, aber sie waren in seinem Kopf schon an der Stelle vorbeigeschrammt, an der sich Worte noch aufhalten ließen. Die Traumfrau verdrehte die Augen.
“Na klar, reparieren, was denn sonst?“
„Also eigentlich mache ich alles“, sagte Friedel. Und weil heute Eröffnungstag war und etwas Neues begann und weil man nicht jeden Tag seine Traumfrau traf, fasste Friedel sich ein Herz und fügte hinzu:
„Darf ich vorstellen? Friedel Scheuer, Universalreparierer. Der letzte und einzige seiner Art.“ Dazu machte er eine alberne Verbeugung.
Die Traumfrau lachte. Sie stellte sich als Emma Schürmann vor und berichtete ihm, dass ihr Motorrad drüben auf dem Markt stehe und nicht mehr anspringe. Ob er sich das mal ansehen könne.
Sie gingen gemeinsam hinüber auf den Marktplatz. Das Motorrad war ein altes Schätzchen und hatte schon viele Jahre auf dem Buckel. Emma sagte, sie hätte es von ihrem Großvater geerbt und es läge ihr sehr viel daran. Friedel schob das Motorrad hinüber in seine Werkstatt und machte sich an dem Computer zu schaffen, um einen Reparaturauftrag zu erfassen. Die Sonne hatte die Häuserfronten auf der gegenüberliegenden Markseite überklettert und den kleinen Laden mit Helligkeit geflutet. Emma saß nebenan auf dem Sofa und betrachtete die Werkzeuge, die sauber und ordentlich an der Wand befestigt waren. Die Sonne beschien ihr Gesicht und ihre Haut schimmerte wie Pergament. Friedel riss sich von ihrem Anblick los und vervollständigte die Auftragsdaten.
Dann druckte er eine Bestätigung und reichte sie Emma. Er werde sich ihr Motorrad heute noch ansehen und mit etwas Glück sei es morgen fertig.
Emma lächelte und sagte, das wäre wunderbar. Sie wünschte ihm einen schönen Tag und ging zur Tür. Er sah ihr nach und bemühte sich, nicht zu starren. Er wusste nicht wie, aber Frauen merkten es, wenn man sie anstarrte. Die Türglocke bimmelte zum Abschied, Emma schloss die Tür und als sie auf den Bürgersteig treten wollte, geschah es. Der Eingang zu seinem Geschäft besaß eine Stufe, einen kleinen Absatz, dessen Breite unzureichend war. Wenn man das Geschäft betrat, war es kein Problem, aber wenn man es verließ, erwies sich der Absatz als zu knapp bemessen und man trat unvermutet ins Leere. Friedel hatte die Stufe verbreitern wollen, aber in der Eröffnungshektik der letzten Tage war es ihm entfallen. Sie fiel hin.
Jetzt lief er schnell hinaus und half ihr auf. Friedel entschuldigte sich für die dämliche Stufe und Emma fluchte über ihre Ungeschicklichkeit. Sie versuchte aufzutreten und verzog schmerzhaft das Gesicht.
„Am besten, wir gehen rein und du setzt dich erst einmal“, schlug Friedel vor. Er legte einen Arm um sie, damit sie sich abstützen konnte und bugsierte sie zurück in den Laden. Friedel handelte ohne nachzudenken, seine Hilfsbereitschaft verdrängte seine Schüchternheit. In der Werkstatt stand ein kleines Sofa, dorthin humpelten sie gemeinsam und Emma setzte sich.
Friedel legte ein Kissen unter ihren Fuß und zog ihr den Schuh aus. Emma war jetzt eine Traumfrau mit einem mechanischen Defekt, und mit Defekten kannte er sich aus. Er holte ein Kühlkissen und legte es auf die Schwellung über dem Knöchel. Das Außenband des Sprunggelenks sei vermutlich angerissen, diagnostizierte Emma. Eine langwierige Angelegenheit. Friedel entfernte das Kühlkissen und betastete ihren Fuß. Er verschwand fast unter seinen Händen. Friedels Hände waren riesig, aber nicht klobig, sondern fein, wie bei einem Pianisten. Nur dass Pianisten keine Narben auf den Händen hatten. Man sah seinen Händen die Kraft an, die in ihnen steckte und die Geschicklichkeit. Man sah ihnen an, dass sie alles reparieren konnten, was es zu reparieren gab.
Seine Hände betasten ihren Fuß, drückten hier und fühlten dort. Dann umschlossen sie den Fuß und hielten ihn fest.
Friedel betrachtete seine Hände. Er hatte noch niemals ein Sprunggelenk repariert, aber seine Hände schien das nicht zu stören. Gelenk war Gelenk, ob aus Stahl oder aus Knochen.
Emma starrte auf ihren Fuß. Der anfängliche Ärger in ihrem Gesicht wich einem Ausdruck der Verwunderung, um dann Verwirrung und schließlich Unglauben Platz zu machen. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber sie schien es sich anders zu überlegen und schloss ihn wieder. Die Zeit lief langsam im Kreis und nach einer Dauer, die nicht exakt bestimmbar war, stand Friedel auf und holte eine Mullbinde aus dem Verbandskasten. Er bandagierte ihren Fuß und schlug vor, einen kleinen Probelauf zu starten. Emma erhob sich vorsichtig. Sie verlagerte ihr Gewicht auf den verletzten Fuß und machte ein paar zaghafte Schritte.
„Das fühlt sich gut an“, sagte sie verwundert. “Wo hast Du das denn gelernt?“
„Ein guter Universalreparierer kann auch Füße“, grinste Friedel.
„Dann muss ich mir um mein Motorrad wohl auch keine Sorgen machen?“
„Das ist in guten Händen.“
Friedel erkundigte sich, wie sie nach Hause komme und ob er ihr ein Taxi rufen solle. Das sei nicht nötig, sie nehme die Stadtbahn. Emma verabschiedete sich und ging zur Tür. Sie hinkte nur ganz leicht, so als erwartete sie einen Schmerz, der dann aber ausblieb.
Friedel hatte den Vergaser zerlegt und gereinigt, ein neues Gewinde in die Benzinpumpe geschnitten und alles wieder zusammengesetzt. Er hatte schon unzählige Geräte und Maschinen repariert, ihnen einen Fortbestand ermöglicht, sie vor dem Schrottplatz bewahrt. Aber das Gefühl war immer noch das gleiche, ein warmer Stolz, die Gewissheit, ein kleines Stück der Wirklichkeit gerettet zu haben.
Schon als kleiner Junge hatte Friedel seine Leidenschaft für technische Gerätschaften entdeckt. Er besaß eine Begabung für die Welt der Dinge. Er demontierte, reparierte und restaurierte alles, was ihm zwischen die Finger kam. Das Haushaltswarengeschäft der Großeltern hatte ihm einen endlosen Strom an Übungsobjekten beschert. Der Großvater hatte bald die Begabung des Enkels erkannt und
ihn im Laufe der Jahre auch offizielle Reparaturaufträge ausführen lassen. Manche Geräte, die ihre Hersteller selbst nicht mehr reparieren wollten, setzte Friedel wieder instand. Er gab nie auf. Er suchte, bis er den Fehler gefunden hatte. Einmal hatte ein Kunde den Großvater beiseite genommen und behauptet, die Espressomaschine arbeite nach der Reparatur besser als neu und der Kaffee habe ihm noch nie so gut geschmeckt.
Friedel betrachtete das Motorrad, eine alte BMW R27, ein richtiges Liebhaberstück. Er würde es nach Ladenschluss auf die Straße schieben und ausprobieren, obwohl das eigentlich nicht nötig war. Er wusste auch so, dass es wieder funktionierte.
Er freute sich auf das Lächeln, das sich auf Emmas Gesicht abzeichnen würde, wenn sie hörte, wie der Motor ansprang.
Die Türglocke bimmelte Friedel aus seinen Gedanken. Er rief in den Laden hinüber, dass er gleich komme und reinigte sich die Hände mit Waschpaste. Dann ging er hinüber, gespannt auf den neuen Kunden und erstarrte. Da stand Akki und schaute sich um. Jetzt kam er auf Friedel zu, verzog die Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen und begrüßte ihn, als sei nichts gewesen. „Na, du alter Schrauber, was machen die Muttern?“
„Sind schwer am Klemmen“, ergänzte Friedel rituell.
Dann Umarmung, Rückenklopfen und Mensch, Junge. Akki sagte, er hätte beschlossen, nicht mehr sauer zu sein, der Klügere gebe nach und so. Er lachte und sie flachsten ein bisschen rum. Es war fast wie immer.
Akki meinte, normal wäre er gestern schon gekommen, zur Eröffnung. Aber er habe jetzt eine Neue und die sei die Richtige und was ganz Besonderes, aber sehr wartungsintensiv, wenn Friedel verstehe, was er meine. „Und gestern war eben Wartung. Nicht nur Muttern brauchen Schmiere.“ Wieder Akki-Grinsen.
„Jetzt zeig deinem alten Kumpel mal den Laden hier.“ Es war wirklich wie immer. Akki wusste, was er wollte, während Friedel noch dabei war, sich zu sortieren.
Sie standen in einem Verkaufsraum, den Akki vom Nordmarkt kommend durch eine altmodische Holztür betreten hatte. Alles in dem Raum war gebraucht, aber in gutem Zustand. Die Haushaltsgeräte in den Regalen und Schaufenstern standen unverpackt, aber stolz und ordentlich ausgerichtet da. Erprobte und bewährte Helfer für alle Verrichtungen des Alltags: große und kleine Haushaltsgeräte, aber auch Elektronisches, ein Fernseher, Radios mit dicken Knöpfen und sogar einige Mobiltelefone. Friedel zeigte Akki einige Geräte, die er vom Schrottplatz geholt und repariert hatte, um sie hier zum Verkauf anzubieten. Dann gingen sie in die Werkstatt, die durch einen Vorhang vom Verkaufsraum getrennt war. Rechts mittig an der Wand dominierte eine Werkbank, zu beiden Seiten eingerahmt von unzähligen Werkzeugen, die mit Haken und Ösen an metallenen Werkzeugwänden hingen. Alles war sehr sauber und aufgeräumt.
An der Stirnseite des Raumes drang Licht durch ein Fenster, daneben gewährte eine Tür Zutritt in den Hinterhof.
An der linken Wand stand ein gemütliches Sofa, das Friedel bei einer Wohnungsauflösung erstanden und neu bezogen hatte. Neben dem Sofa führte eine weitere Tür zu Teeküche und Toilette.
Als sie die Werkstatt betraten, stutzte Akki: „Die Karre kenn ich doch!“ Er deutete auf die alte BMW, die unübersehbar und unverwechselbar mitten in der Werkstatt aufgebockt war.
„Ach ja, woher denn?“
„Die gehört doch Emma, meiner Emma.“ Akki grinste.
„Der besonderen und wartungsintensiven?“, erkundigte sich Friedel.
„Ganz genau, mein Freund.“ Akki fixierte Friedel.
Friedel erklärte, eine junge Frau habe das Motorrad heute bei ihm abgegeben. Sie hätte wohl auf dem Markt einkaufen wollen und dann sei das Motorrad nicht mehr angesprungen. Friedel machte noch ein paar Bemerkungen zur Maschine. Er vermied es, über die Besitzerin zu sprechen. Auch den kleinen Unfall erwähnte er mit keinem Wort.
Soso, meinte Akki, das sei ja wirklich ein erstaunlicher Zufall. Ob er sich das Motorrad denn schon angesehen habe.
Friedel bejahte und versicherte Akki, das Motorrad liefe wieder einwandfrei.
„Tja, mit Maschinen konntest du schon immer gut, besser als mit Frauen“, meinte Akki und nickte versonnen mit dem Kopf, so als sei es eine traurige Wahrheit, die nur mutige Realisten auszusprechen wagten.
Friedel spürte das Pochen einer alten Wunde, dumpf, beinahe vertraut, aber schwächer als sonst. Wieder fragte er sich, warum Akki etwas aussprach, das keinerlei Neuigkeit enthielt, aber dafür umso mehr bittere Erinnerungen.
Er müsse jetzt weiter, meinte Akki dann, aber man sollte demnächst mal wieder ein Bier zusammen trinken, vielleicht käme Emma auch mit.
Es war nicht mehr viel los an diesem Tag. Friedel sperrte den Laden pünktlich zu und ging nach oben in seine Wohnung. Er legte sich früh ins Bett, wachte aber mitten in der Nacht auf. Ein zorniger Akki war ihm im Traum erschienen. Er wusste nicht mehr warum und der Rest war schon verblasst. Irgendwann fand Friedel zurück in einen unruhigen Schlaf. Er stand früh auf und ging in den Laden. Er räumte auf, was nicht mehr aufgeräumt werden musste und überprüfte das Motorrad (das lief natürlich).
Jetzt lief Friedel in großen Kreisen durch die Werkstatt, an der Werkbank vorbei, an dem stabilen Schraubstock, an den Regalen mit den elektrischen Werkzeugen, an der Tür zum Hinterhof, dann am Sofa entlang und am Vorhang, der Laden und Verkaufsraum trennte. Dann noch einmal dieselbe Strecke und wieder und wieder. Immer wenn er nicht weiter wusste, musste er sich bewegen. Er hätte auch durch die Straßen laufen können, aber er wusste, dass er seltsam ausgesehen hätte. Mit den Armen, die willkürlich unter seinem Gemurmel und Gezanke, dem haareraufenden Gefluche zuckten. Friedel stritt mit sich selbst. Jeder, der ihn so sähe, würde die Männer in den weißen Kitteln rufen. Deswegen hatte er sein Streitgespräch in die Werkstatt verlegt. Dieser Raum war von der Straße nicht einsehbar. So viel Geistesgegenwart besaß er noch.
Jetzt mal immer mit der Ruhe, sagte sich Friedel. Die Fakten, erstmal die Fakten. Akki war wieder da. Friedel hatte sich mit Akki versöhnt und das war gut, das war sogar sehr gut. Akki war sein Kumpel, sein bester Freund, er kannte ihn schon seit der Schulzeit. Das konnte man doch nicht aufgeben, das durfte man nicht aufgeben.
Dann brach etwas Wildes in ihm durch, dass er bisher nicht gekannt hatte. Er beschimpfte sich als alten Bedenkenträger, der sich fürchtete. Jetzt hatte er endlich nach all den Jahren eine Frau gefunden – mehr durch Zufall als durch Verdienst – und jetzt musste er zugreifen.
Aber das konnte er Akki nicht antun, das wollte er Akki nicht antun. Oder doch?
Warum denn nicht? Schließlich war Akki ein Womanizer. Der schüttelte sich einmal und suchte sich ´ne Neue.
Keiner wusste das besser als Friedel.
Jetzt stand er vor dem Waschbecken und betrachtete sich in dem kleinen Spiegel. Die Augen gerötet von der kurzen Nacht.
Friedel versuchte, sich an die genauen Worte zu erinnern. Wie Akki von ihr gesprochen hatte, war da nicht mehr gewesen in seinem Gesicht als der Triumph des Jägers?
Was Akki wohl an seiner Stelle täte? Immer drauf, nicht zögern, keine Gefangenen machen, das war Akkis Devise. Aber er war Akkis bester Freund und Akki kannte seine Nöte.
Ach, was sollte das ganze Hin und Her? Sie wollte ihn sowieso nicht. Sie war mit Akki zusammen und Akki war ein Womanizer. Niemals würde sie Akki verlassen, niemals und schon gar nicht für einen Bastler mit dreckigen Fingern.
Finger, das war das Stichwort. Friedel hatte mit seinen langbefingerten Händen ihren Fuß massiert. Das hatte sich gut angefühlt, das hatte sich richtig angefühlt. Sein Herz war voller Zweifel aber seine Hände wussten, was sie wollten. Er sollte auf seine Hände hören!
Er blieb ruckartig neben dem alten Sofa stehen, auf dem er ihren Fuß massiert hatte, und betrachtete seine Hände. Sie waren groß und kräftig durch das Schrauben und Werken und Halten. Aber mehr eben nicht. Er lebte schon seit dreiundzwanzig Jahren mit diesen Händen zusammen und so etwas hatten sie noch nie getan. Es waren Mechaniker-Hände, geschickt, gelenkig und genau. Hände, die formten und reparierten. Und gestern hatten sie eben ihren Knöchel repariert.
Reparieren, wieso reparieren? Das war kaum das richtige Wort. Wenn man Menschen reparierte, nannte man das heilen.
Aber heilen, das war was für Ärzte, nicht für Mechaniker.
Unerhört, da hatten seine Hände ihre Zuständigkeit überschritten! Aber hatten seine Hände wirklich geheilt, oder hatte es nur so ausgesehen? Sowas gab es einfach nicht. Wahrscheinlich war der Fuß gar nicht so schwer verletzt, mehr ein Schock oder sowas, und dann, als sie auf dem Sofa saß und den Fuß hochgelegt hatte, als das ganze Blut von dem Umknicken, das Umknickblut, wieder zurückgeflossen war, da ging es dann besser. Und dann noch ein bisschen massieren und gut war‘s. Keine große Sache.
Das war die Erklärung, die einzige Erklärung, eine andere konnte es nicht geben. Auch wenn er sich vielleicht etwas anderes gewünscht hätte, so musste man doch bei den Tatsachen bleiben.
Die Türglocke bimmelte. Das hatte ihm gerade noch gefehlt.
„Hallo, ist da jemand?“
Das war sie, das war ihre Stimme. Friedel fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht, und hoffte, dass er damit den Wahnsinn der letzten Stunden fortwischen konnte.
Er betrat den Laden. Da stand Emma neben der Eingangstür und schien erleichtert, dass Friedel im Laden war.
„Guten Morgen. Ich wollte mal hören, was mein Motorrad so macht.“
Während sie sprach, ging sie auf Friedel zu, der neben dem Tresen stand. Ihr Gang war gleichmäßig, kein Humpeln oder Hinken, keine Verzögerung.
„Ja, das Motorrad, das habe ich repariert. Vergaser gereinigt und Benzinpumpe überholt. Läuft wieder.“
„Das ist großartig.“
Sie stand jetzt direkt vor ihm und er schaute in ihr Gesicht. Sie sah genauso betörend aus wie gestern. Aber da hatte er noch nicht gewusst, dass sie Akkis Freundin war. Er spürte, wie Bitterkeit in ihm aufstieg. Ob sie es auch wusste, ob Akki es ihr gesagt hatte? Sie wirkte so unbefangen, als sei die Sorge um ihr Motorrad das Einzige, was sie beschäftigte.
„Wir haben einen gemeinsamen Bekannten“, platzte es aus Friedel heraus.
„So wirklich? Wer soll das sein?“, fragte sie erstaunt.
„Na Akki, natürlich. Den kennst du doch, oder nicht?“
Akki, ja, den kenne sie. Aber woher er das wisse?
Er erzählte ihr, dass Akki ihn besucht habe, dass sie sich schon seit ihrer Jugend kannten und sich vor ein paar Monaten gestritten, aber jetzt wieder versöhnt hatten.
Als er sprach, sank ihr Lächeln in sich zusammen. Die Mundwinkel glitten hinab und ihre Lippen pressten sich zu einem festen Balken.
„Dann muss er mir gefolgt sein. Spioniert er mir wirklich nach?“. Sie sprach ganz leise, wie zu sich selbst.
„Wieso nachspionieren? Er hat davon gehört, dass ich meinen Laden eröffnet habe und wollte mir gratulieren. Es war Zufall, dass er hier aufgetaucht ist, als ich gerade dein Motorrad in Arbeit hatte.“
„Nein, das war kein Zufall, bei Akki gibt es keinen Zufall.“ Emmas Brauen zogen sich zusammen, ihre Stirn warf gewittrige Falten.
Friedel bot ihr Tee an und sie setzen sich gemeinsam in die Werkstatt. Emma auf das Sofa und Friedel ihr gegenüber auf einen Stuhl. Sie nippten zaghaft an ihren Getränken. Friedel schwieg, weil er nicht wusste, was er sagen sollte und weil er die Vertrautheit, die sie mir ihrem Verdacht hergestellt hatte, nicht zerreißen wollte.
Dann begann sie zu erzählen. Sie habe Akki vor zwei Monaten auf einer Party an der Uni kennengelernt. Er sei sehr charmant gewesen und aufmerksam, ein guter Tänzer und ein hübscher Kerl. Er habe genau gewusst, wie man es anstellte, damit eine Frau sich wohlfühlte. Sie hätten den ganzen Abend miteinander getanzt. Mehr hätte sie im Grunde nicht gewollt, nur tanzen und sich amüsieren. Die Leichtigkeit und Freude der Bewegung.
Nachher habe er angeboten, sie nach Hause zu begleiten und als sie dann vor ihrer Wohnung angekommen waren, hätte sie ihn hinauf gebeten. Vielleicht sei das ein Fehler gewesen, aber er habe so dagestanden und sie angelächelt und da habe sie irgendwie nicht anders gekonnt.
Friedel nickte, das berühmte Akki-Lächeln. Wie oft hatte er ihn darum beneidet.
Sie hätten schöne Tage miteinander verbracht und sie möge ihn, aber er belagere sie zunehmend. Und das mache ihr Sorge. Schon zweimal sei er aufgetaucht, als sie mit ein paar Kommilitonen in der Uni gelernt habe, und dann hatte sie mehrfach geglaubt, ihn im medizinischen Institut gesehen zu haben, in der Ferne, aus dem Augenwinkel. Vielleicht waren es nur Täuschungen, aber vielleicht auch nicht. Wenn sie ihn darauf ansprach, stritt er es ab. Einmal habe Akki gesehen, wie sie mit Richard, einem anderen Medizinstudenten, beisammen gestanden und gescherzt habe. Richard sei eine attraktive, gut gelaunte Frohnatur und Akki müsse ihn als Bedrohung gesehen haben. Jedenfalls hätte er ihr abends eine richtige Szene gemacht.
Neulich habe er dann vorgeschlagen, sie sollten doch ihre Handystandorte miteinander teilen, damit jeder wüsste wo der andere sei. Das habe sie abgelehnt und er habe sie gefragt, ob sie denn etwas zu verbergen hätte.
„In den letzten Wochen hat er sich um mein Leben gewickelt wie eine Schlingpflanze. Und dann taucht er gestern hier auf. Da glaub ich nicht an Zufall.“ Emma rieb sich mit den Händen durch das Gesicht. Schlanke Finger auf Pergament.
Friedel versuchte diesen erzählten Akki mit seinem alten Kumpel in Einklang zu bringen. Akki war immer die unangefochtene Autorität in Frauenfragen gewesen. Akki der Womanizer, Akki, der aussah wie dieser Schauspieler, dessen Namen Friedel sich nicht merken konnten. Akki, der die Frauen weichlächeln konnte. Was würde geschehen, wenn eine Frau für Akki mehr wäre als eine sportliche Herausforderung?
Friedel wusste es nicht. Ihre Freundschaft war ein Rollenspiel mit klar verteilten Aufgaben. Was würde geschehen, wenn einer aus seiner Rolle herausfiel?
„Wie geht es deinem Knöchel?“, fragte Friedel unvermittelt. Er wollte weg von Akki und hin zu Emma.
Ihre Stirn glättete und ihre Mundwinkel erhoben sich. „Der läuft und läuft. Nur manchmal zwickt er noch ein wenig.“
„Kleine Kontrollinspektion gefällig?“
„Kann bestimmt nicht schaden.“ Sie rutschte tiefer in das Sofa und streckte Friedel ihren Fuß entgegen.
Der hielt einen schwarzen Stiefel in der Hand und zögerte. Sollte er die Freundin seines Freundes wirklich ausziehen? Wenn auch nur die Schuhe? Besser auf Nummer sicher gehen.
„Ich müsste erstmal die Karosserie abbauen?“
„Nichts wie runter damit.“
„Sehr praktisch“, witzelte Friedel, „eine Karosserie mit Reisverschluss!“
Er zog ihr den Stiefel aus und wo er schon mal dabei war, auch die schwarze, halb hohe Socke.
Er entblößte einen fein gegliederten Fuß, überzogen mit heller Haut und mit schlanken Zehen, die ihm freudig zuwinkten.
Friedel nickte anerkennend. „Erstklassige Arbeit. Ein westfälischer Qualitätsfuß.“
„Danke, sehr freundlich, Herr Universalreparierer“.
Emma zögerte einen Moment, dann deklamierte sie in ernstem Tonfall:
„Aber selbst die besten Glieder, brauchen Wartung hin und wieder.“ Ein Glucksen erhob sich aus der Tiefe des Zwergfells, stürmte die Luftröhre hinauf und wurde ein Lachen. Sie kicherten wie Kinder, die Verbotenes getan hatten. Sie kicherten sich Mut zu. Dann rieben sie sich die Lachnässe aus den Augenwinkeln und betrachteten einander. Was sich reimt, das kann nicht falsch sein, dachte Friedel, da begannen seine Hände schon ihr Werk. Sie betasteten die zarte Kalkkonstruktion des Knöchels, fuhren an Muskelsträngen entlang, folgten Sehnen und Bändern, schoben das Hosenbein hinauf und lockerten die gehärtete Wade.
Sie erkundeten jede Faser dieser wundersamen Laufmaschine, sie verstanden und reparierten.
Friedel sah, wie sich die Kicherfalten aus Mund und Augenwinkeln hinauszogen und ihr Gesicht glatt und ernst zurückließen. Die Augen staunten noch einmal auf, dann klappten die Lider herunter. Sie machte ein wohliges Geräusch, ein tiefes Stöhnen, das jedes andere Geräusch aus ihrer beider Wahrnehmung verdrängte.
Das war wohl der Grund, weshalb sie die Glocke nicht hörten. Womöglich hatte der Eintretende die Tür auch sehr behutsam geöffnet, um sich ungehört Zutritt zu verschaffen. Jetzt sah er sich um, zögerte kurz und ging dann auf die Werkstatt zu, zielstrebig, wie jemand, der etwas suchte. Hinter dem Vorhang, der den Verkaufsraum von der Werkstatt trennte, blieb er stehen und lauschte. Er trat ein, als Emma erneut stöhnte.
Friedel saß mit dem Rücken zum Vorhang und betrachtete Emmas Gesicht, während seine Hände ihr Bein massierten. Emma schlug die Augen auf, schloss sie kurz wieder und öffnete sie erneut. Ihre Augen weiteten sich. Friedel dachte, er habe ihr weh getan und hielt inne. Aber dann sah er, dass ihr Blick an ihm vorbeiglitt und etwas schräg hinter ihm fixierte.
„So sieht das also aus, wenn man Mopeds repariert?“, sagte eine Stimme hinter ihm. Es war eine Stimme, die er gut kannte. Friedel drehte sich um und sah Akki. Aber war das wirklich und wahrhaftig Akki? So hatte Friedel ihn noch nie gesehen: die Brauen nach unten gezogen, die Lippen gepresst, die Nasenflügel bebten.
In diesem Moment gab die Zeit ihren chronologischen Fluss auf und verzweigte. Alles geschah gleichzeitig.
Emma schrie Akki an, was er hier zu suchen habe, Friedel stand auf und stieß dabei den Stuhl um, Akki rief, das habe er sich schon gedacht und was für miese Verräter sie beide seien. Friedel meinte, es sei doch gar nichts passiert, nur eine kleine Fußinspektion, aber in dem Moment wurde ihm klar, dass jederzeit alles hätte passieren können. Eine Faust flog auf Friedel zu und traf ihn an der linken Augenbraue. Dann wälzten sich Akki und Friedel auf dem Boden. Emma tanzte um sie herum und schrie von Idioten und von Aufhören.
In dem Geraufe bekam Friedel Akki zu fassen, schlang von hinten seine Arme um Akkis Brust und klemmte ihn fest, schraubstockfest. So hielt er ihn, bis die Zeitströme zusammenflossen, und die Dinge wieder nacheinander geschahen.
Sie atmeten schwer. Friedel löste die Umklammerung und Akki stand auf. Dann erhob sich auch Friedel.
Akki verließ die Werkstatt ohne ein weiteres Wort. Emma ging zu Friedel und umarmte ihn. Sie müsse mit Akki reden und ihm alles erklären. So dürfe es nicht enden. Dann verließ auch sie das Geschäft.
Friedel trat in den Verkaufsraum und sah hinaus auf den Markt. Menschen standen in Gruppen beieinander und schwatzten, andere saßen auf Bänken und streckten ihre Gesichter der Sonne entgegen.
Sie bemerkten nicht, dass die Zukunft einen Riss bekommen hatte. Die Ränder waren kantig und scharf. Alles sah unfertig aus, nichts passte zusammen.
Das Leben selbst, das müsste man richten können, dachte Friedel. Aber das war wohl zu viel verlangt, selbst für einen Universalreparierer.
Foto: Barn Images (Unsplash)
Th. Kirschning
Eine schöne Geschichte über die Verwirrungen des Lebens und der Gefühle. Sagen, was man sagen möchte, aber nicht wagt zu sagen. Denken was man denken möchte und sich traut zu denken und dann seine Gedanken durch Hände fliessen und doch noch zu Worte kommen lässt.
Wunderbar, gefällt und berührt mich sehr. Danke!
Jochen Witte
Danke meinen beiden Lesern für ihr Feedback. Das macht Mut. Ohne euren Beifall geht es nicht.
Danke auch allen, denen es nicht gefällt, und die ihr Missfallen vornehm für sich behalten. Ohne eure Diskretion geht es auch nicht.
Matthias Pieper
Mensch Friedel, äh Jochen, das ist ein gute Geschichte! Ich hatte viel Freude beim Lesen, die Sprache ist sehr schön und manche Sätze sind herausragend, dazu ein Spannungsbogen, der mich bis zum (offenen) Schluss mitgezogen hat.
Iris Otto
Ein großes Kompliment für diese schöne Geschichte. Mir gefällt vor allem die Sprache und das “offene” Ende.