Das Dorf in uns
Während andere Menschen aus anderen Ländern das Meer in sich („Mar adentro“) haben, schleppen wir Deutschen das Dorf in uns herum. Wir ziehen ins Kleine, andere ins Große. Wir Deutschen lieben die Sicherheit mehr als alles andere. Im Kleinen scheint sie uns gegeben oder zumindest ein erreichbares Ziel. Das war auch schon zu Biedermeier-Zeiten so.
Sicher gibt es gute Gründe für diesen Rückzug in anheimelnde Gefilde. Die Mieten in der Stadt steigen, das Klima spielt verrückt, Flüchtlinge und Kriege kommen (uns) immer näher – und das bald auch noch ohne Angela Merkel! Umwälzungen aller Gesellschaften sind dringend geboten, doch niemand weiß, wie die Zukunft aussehen wird. Wir sind verunsichert. Also gehen wir (mental) erst einmal dorthin, wo wir herkommen – und ziehen aufs (meist norddeutsche) Dorf. Zumindest im Roman.
Wie Unkraut
Anscheinend ist der romantischen Vorstellung, die wir mit der Natur, der Landschaft und dem Dorfleben verbinden, kein Kraut entgegenzusetzen. Magazine wie LandLust, LandLiebe, LiebesLand, Mein schönes Land, schießen wie Unkraut in die Fantasie der LeserInnen. Sie locken mit Rezepten, die die Ursprünglichkeit der Zutaten feiern – und mit selbst gestalten Fußabstreifern. Diese lassen den Dreck draußen (alias Weltprobleme) und begrüßen die willkommenen Nachbarn freudig.
Auf dem Land ist die Welt noch in Ordnung
Denn auf dem Land ist die Welt noch in Ordnung, da kommt man sich näher, da geht man auf einen Schnaps, da isst man an der langen Tafel im Garten (oder auf der Wiese) den selbst gemachten Kirschkuchen. Die Kinder tanzen in ihren Feenkleidern um die Gesellschaft, die Erwachsenen tragen Gummistiefel. Die Frauen binden sich schnell mal einen Strick, der sonst für die Kuh benutzt wird, um die Hüfte, damit auch der LandLook feminine Seiten zeigt.
Ach, wie schön ist es, im Modder zu buddeln und dem Unkraut biologisch-dynamisch bewusst eine Chance zu geben; wie befriedigend, abends todmüde von der Feld- respektive Gartenarbeit ins grobe LandBett zu fallen. Und der LandBäcker bietet das ursprüngliche, nämlich Demeter-Mehl. Das läuft einem selbst noch in den Träumen das Wasser im Mund zusammen.
Die Scholle klumpt
Dieser Trend äußert sich auch in der „hohen“ Literatur, und schlägt sich entsprechend in den Bestsellerlisten nieder. KritikerInnen und LeserInnen sind offenbar sehr zufrieden. Zuletzt wurde Judith Hermanns Roman „Daheim“ hoch gelobt. Die Autorin lässt ihre Protagonistin in der Mecklenburgischen Provinz ihre neues „Daheim“ finden und möbliert das Schlafzimmer des neuen Liebsten – eines Schweinebauern – sehr karg. Dessen Schwester tanzt nachts selbstvergessen nackt. Alle Menschen, die Zugezogenen wie die Neuankömmlinge, sind einigermaßen kauzig, denn die Scholle klumpt wie eh und je. Selbst wenn das Quieken der Schweine sowie ausbleibender Regen (von der Kritik lobend erwähnt) Anspielungen auf die großen Themen unserer Zeit sein sollten: Das Idyll lebt.
Dennoch ist die Sehnsucht, die dahintersteckt, sicher auch ernst zu nehmen: Immer geht es um Identität und um einen Platz, an dem man sein will – „Daheim“ eben.
Julia Encke, die Feuilletonchefin der FAZ in der „Verdorfung der Literatur“ ihr Unbehagen als Forderung formuliert: „Vielleicht könnten diese Schriftstellerinnen jetzt einfach mal anfangen, in ihren Romanen und Gedichten über etwas anderes zu schreiben als über das Dorf, in dem sie wohnen. Es ist eintönig und homogen geworden, eine langweilige Blase. Höchste Zeit, dass die deutsche Literatur mal wieder umzieht oder verreist. Das geht jetzt ja wieder.“
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