Das Corona-Tagebuch – neue Texte
Das Corona-Tagebuch – Die Brillen von Brad Pitt
Die Brillen von Brad Pitt sind ein Schlaglicht auf das “Corona-Tagebuch”. Das war ein Themen-Special von schreibwerk berlin. Täglich schreiben die TeilnehmerInnen täglich einen Text über ihre Situation.
Die Texte geben die Meinung der AutorInnen wieder.
Lakrimo, 25. März 2020
Spargel ohne Kommentar
Vorm Fenster steht eine Kastanie. Ihre Knospen glänzen schon. Morgens halten die Spatzen hier ihr Schwätzchen, bespricht ein Amselpaar die Tagesroutine und genießt die Sonne nach der kalten Nacht. Der Moment nach dem Aufwachen, in dem Corona noch keine Rolle spielt, ist der schönste.
Heute muss ich in die Welt. Die Welt der sandigen Böden rund um Beelitz. Es geht um Blühflächen und einen insektenfördernden Landwirt. Freundliche Blicke statt Händeschütteln. Das Büro ist klein, wir sitzen auf Abstand. Nach einer halben Stunde kommen noch zwei Menschen dazu, die das Projekt fördern. Inhaltlich ist das toll, aber mein Sicherheits- und Verantwortungsgefühl schlägt Alarm: Es geht nicht nur um Dich. Sieh zu, dass Du hier rauskommst! Wir kürzen ab und machen auf dem Acker weiter.
Den zweiten Termin lässt das Innenministerium platzen. Ausländische Arbeitskräfte dürfen ab heute, 17 Uhr, nicht mehr einreisen, auch nicht die Rumänen, die den Beelitzer Spargel stechen sollten. Mein Interviewpartner, der noch gestern fröhlich einem Gespräch zugesagt hatte, steht enorm unter Druck und redet nicht mehr mit der Presse, bevor die Situation nicht geklärt ist. Verstehe. Ich fotografiere leere Spargelfelder, wehende Folien, Stapel mit bunten Plastekisten und eine Reihe Wägelchen mit denen sie durch die Reihen gezogen werden. Von wem auch immer. Alles Corona.
In Beelitz ist der tote Hund begraben. Kaum ein Mensch auf der Straße. Ich fotografiere die Suppenfabrik, die letztes Jahr im Oktober geschlossen wurde, die Plakate, die zum Spargelfest einladen, das vermutlich nicht stattfinden wird. Nichts wie weg.
Zu Hause ziehe ich die Duschnummer durch und tausche die kontaminierte Außenweltkleidung mit Homeoffice-Schlabberlook. Dann desinfiziere ich den Rachenraum mit einem butterweichen, siebenjährigen Metaxa: schlürfen, durch die Zähne ziehen, gurgeln – ich wette, das hilft nicht weniger als Globuli. Feierabend. Heute sind wir übrigens bei 505 positiv getesteten Brandenburgern, und Defender2020 wurde tatsächlich abgesagt. Schon vor zehn Tagen, es hat nur kaum jemanden interessiert.
Petra Pieper-Rudkowski
Komme ich heute zur Ruhe? 24. März 2020
Komme ich heute zur Ruhe? Der Aufbau meines neuen Alltags in diesen verwirrenden Zeiten ist noch nicht abgeschlossen. Kann das überhaupt geschehen? Ich weiß es nicht und versuche weiter meinen Tagen eine Struktur zu geben. Ich entdecke Rituale neu und teste, ob sie mir gut tun.
Corona hat meinen Alltag verändert. Beim Aufwachen kitzeln mich die ersten wärmenden Sonnenstrahlen im Gesicht und ich höre die Vögel zwitschern. Bis vor einer Woche saß ich um diese Zeit schon im Zug Richtung Büro, könnte das Vogelgezwitscher nur erahnen und die Sonnenstrahlen brachen sich in den Scheiben des ICE.
Um acht Uhr sitzen wir gemeinsam am Frühstückstisch. Irgendwie beinahe Wochenendstimmung und doch eben anders. Auch mein Mann muss erst später los in die Praxis, wer weiß wie lange noch. Ich gehe einfach nur an meinen Schreibtisch ins Homeoffice, versuche eine Arbeitsstruktur zu entwickeln und koche mir dann doch erst mal eine Kanne Tee. Tee habe ich normalerweise auch im Zug dabei. So geht es besser. Mails checken und beantworten. Das eine oder andere Telefonat, eine willkommene Abwechslung. Mein Arbeitstag läuft so dahin und ich bin in Gedanken immer wieder bei Corona. Fragen machen sich in mir breit, auch Unsicherheit. Ich versuche mich zu konzentrieren. Das Konzeptionieren einer Fortbildung habe ich mir für heute vorgenommen und tatsächlich schaffe ich es, mich für 90 Minuten ganz auf diese Aufgabe zu fokussieren. Gegen 12.30h ist es geschafft und ein gutes Gefühl macht sich in mir breit. Noch einige Mails geschrieben, Termine abgesagt und…..
Jetzt gönne ich mir eine Pause und hänge Wäsche auf. Auch irgendwie anders als sonst, das ist nicht meine normale Pausenbeschäftigung, aber besser als schon wieder die neuesten Corona-Nachrichten auf dem Tablet zu lesen.
Eine richtige Pause bringt mich dann auch heute wieder in den Wald. Dieses Ritual tut mir gut. Ich wandere über meine gewohnten Wege und probiere neue Strecken aus. Nie hätte ich gedacht, dass es in unserem Wald soviel zu entdecken gibt. Im Abstand von zwei Metern bin ich zum ersten Mal mit einer Freundin unterwegs. Wir schaffen es endlich auch andere Themen zu besprechen. Was liest du gerade? Welche Freunde*innen hast du gesprochen? Wie weit bist du mit deinem Garten? Was bewegt dich? Und schon sind wir wieder auf das, alles überdeckende Thema.
Neuer Versuch, im Moor steht in der Sonne eine Bank und sie ist frei. Einen Augenblick die Sonne und den Blick über die Wiese mit den Binsen schweifen lassen. Wir sitzen jeweils am rechten, bzw. linken Rand der Bank und schweigen gemeinsam. Eine Stunde fast Normalität. Wir werden es wiederholen.
Mein Tag läuft weiter und auch die nächsten Tage werden kommen und gehen. Auch heute bin ich gewiss: Hinter jeder Wolke scheint die Sonne.
Beate van den Berg
Die Brillen von Brad Pitt, 25. März 2020
Kontaktsperre Tag 3 kommt mir heute vor wie Kontaktsperre Tag 30. Ich bin später als sonst dran an meinem Eintrag, denn ich musste mir vorhin einen kleinen Nachmittagsschlaf gönnen. Grund war, dass ich Punkt 3 Uhr heute Nacht auf einen Schlag hellwach war. Ich hatte geträumt, Brad Pitt (!!!) hätte mir 2 Brillen (???) im Stil der 70/80er Jahre (???) geschenkt. Anscheinend war mein Unterbewusstsein der Meinung, da müsse mal etwas anderes her, also immer nur Corona (gibt´s da nicht ein Belohnungssystem im Gehirn?) Nun, ich will ja nicht unbescheiden sein, aber ich hätte lieber mit Brad Pitt einen Kaffee getrunken, mit den Brillen kann ich irgendwie nichts anfangen.
Habe mich dann mitten in der Nacht vor den Laptop gesetzt und nochmal geschaut, was im Rest der Welt so los ist. Indien steht jetzt ebenfalls unter kompletter Ausgangssperre. Knapp 1,4 Milliarden Menschen unter Hausarrest, wobei viele ja gar kein Dach über dem Kopf besitzen – unvorstellbar. Eine Freundin von mir lebt mit ihrem indischen Mann in Varanasi, sie hatte mir schon vor 6 Tagen geschrieben, dass die beiden ihre Künstlerresidenz, die sie dort betreiben, und überhaupt die Tore geschlossen haben. Sie haben sich für 2 Wochen bevorratet und nur der Gemüsehändler schaut ab und zu vorbei. Ja, ein Gespenst geht um in der Welt.
Vor meiner eigenen Tür sieht es fast ein bisschen aus wie immer. Ich habe das Gefühl, es sind wieder mehr Menschen draußen als die 2 Tage zuvor. Vielleicht flüstern uns doch die alten Gewohnheiten ins Ohr, man können seine Grenzen ruhig ein bisschen ausreizen. Ich weiß es nicht. Jetzt lasse ich den Abend ruhig ausklingen und bin gespannt, wer heute Nacht zu Besuch kommt.
Stefan Gross
Allein in Quarantäne, 25. März 2020
Heute Nacht raste ein Adrinalinsüchtiger mit seinem Rennmotorrad hart, schnell und schneidend wie eine Kreissäge durch verbotene neue Räume. Irgendwie hat er mich angefahren am inneren Rand meines Bewusstseins, da, wo mein schwarzes Loch anfängt, ein Bewusstsein auszubilden. Meistens halte ich das ja für mein eigenes. Doch einen winzigen Moment lang mal nicht mein eigenes bekanntes Selbst zu sein ist schon ein krasses Gefühl.
Heute morgen die heitere Sonne, der klare Himmel und die kalte frische Luft, die wir seit einigen Tagen haben. Schön wärs, wenn ich glauben könnte, dass der Himmel sich gerade reinigt von den ganzen Abgasen, die wir ihm zugesetzt haben. CO2 ist übrigens eiskalt und geruchlos. Ich habe das neulich mal mit einem CO2-Feuerlöcher bei einer Übung testen dürfen. Es unterdrückt den Sauerstoff und bringt damit das Feuer zum erlöschen. Was übrig bleibt, ist Trockeneis als Kondensat. Mir fehlt der Appetit. Die vielen tollen Nahrungsmittel, die wir jetzt vorhalten, sind mir noch fremd. Lupinienprotein, Maiscracker, Hanfmehl, Weizengras… Das fasse ich sowieso erstmal nicht an. Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich das überhaupt essen würde so in der letzten vorstellbaren Not, seit Monaten allein in Quarantäne.
Eine trockne Scheibe Graubrot wäre mir dann wohl lieber als letzter Bissen vorm Verlassen meines alten Universums. Und noch mehr würde ich nach nichts anderem hungern, als nach neuem Licht.
Und hier noch die Nachrichten:
Trumps Regierung will 2 Billionen Dollar in seine Wirtschaft pumpen. Wir dürfen 250 Milliarden an Krediten aufnehmen, also ein Achtel, nicht davon, sondern nur zum Vergleich. Was andere Länder zusätzlich reinpumpen weiß ich nicht.
Die Biotechnologiefirmen stellen Personal ein.
Radioeins rbb berichtete, dass 9 von 10 Freiwilligen, die in Brandenburg bei der Spargelernte helfen wollten, der harten Arbeit nicht gewachsen sind und wieder aufgegeben haben.
Ulrich Fritz
Besorgnis und Besorgungen, 27. März 2020
Ich wache auf in der Nacht – 2:00 und es kratzt im Hals. Corona ? Drohen Beatmung und Intensivstation ? Ich habe noch keine Patientenverfügung ! Schlagartig werde ich wacher und ärgere mich über mich selbst. Ich bin besorgt !! Früher war ich auch besorgt, wenn ein Halskratzen sich meldete. Würde es sich wieder verziehen oder war es der Beginn einer beginnenden Infektion ? Würde ich weiterarbeiten können ? Mich tagsüber mit Wick-Daymed einsatzfähig halten und in der Nacht mit MediNait Schlaf finden ? Vorsichtshalber für einige Zeit auf größere sportliche Anstrengungen verzichten, um mir nicht eine Myokarditis zuzuziehen ? Das waren die Fragen, die sich mir als Freiberufler stellten. Sie erschienen mir normal. Krankmachen war nur eine Option für den absoluten Notfall. Heute ist der Notfall Normalität geworden. Undenkbar, mit auch nur einem leichten Schnupfen in der Öffentlichkeit aufzutreten. Jeder Pollen-Allergiker wird schief angesehen. Corona ist schlimmer als die Pest. Corona ist die neue Lepra.
Ich ärgere mich natürlich auch, daß es dieser weltweiten Massenhysterie überhaupt gelingen konnte, Eingang in mein Denken zu finden. Daß ich sofort bei einem Worst-Case-Szenario lande. Es ist schrecklich, daß diese Massen-Gehirnwäsche auch bei mir ihre Spuren hinterlassen konnte. Wer immer geglaubt hat, ein Drittes Reich könne sich nach 75 Jahren Demokratie nicht wiederholen, der muss jetzt Zweifel kriegen. Die Möglichkeiten, unsere Grundrechte derart schnell und nahezu mühelos einzuschränken machen mir Angst. Ich stelle mir vor, wie interessierte Kreise das Szenario mit großer Aufmerksamkeit verfolgen. „Ja ja, so könnte es gehen… Interessanter Ansatz, daran haben wir ja noch gar nicht gedacht…“. Da an weiteren Schlaf nicht zu denken ist, widme ich mich einem Hörbuch. Karl May – Durch die Wüste. Kara Ben Nemsi konnte mühelos sein Haupt neben einen Felsen in der freien Natur betten und dort in einen erholsamen Schlaf gleiten. Irgendwie überträgt es sich auf mich und ich erwache gefühlte 50 Seiten später. Jetzt bin auch ich erholt und mein Halskratzen ist verschwunden.
Felicitas tigert unruhig in der Wohnung herum. Meine Frau möchte zu OBI, um dringend benötigten Rindenmulch zu beschaffen. Vor zwei Tagen hatte sie mir davon erzählt. Nach 27 Jahren Ehe weiß ich die Zeichen zu deuten. Wir machen uns auf den Weg, es ist 9:00. Der Baumarkt hat sich Folgendes ausgedacht: sie haben die Anzahl der Einkaufswagen reduziert auf die Menge Kunden, die sich maximal im Gebäude aufhalten dürfen. Jeder Kunde muss einen eigenen Einkaufswagen führen. Security überwacht, dass sich alle an die Regeln halten. Wir sind zum Glück rechtzeitig und bekommen noch zwei Wagen. Felicitas stürmt voran. Beim Einrollen in den Markt (ein fast militärischer Ausdruck, aber wir sind ja im Krieg…) bemerkt der maskenbewehrte junge Mann „Das ist Ihre Frau, ja ?“. Ich bejahe und erhalte die Ermahnung „Trotzdem Abstand halten !“. Ich weiß nicht, ob er das wirklich ernst meint und entgegne „Ja, wie zuhause !“. Jetzt muss er lachen. Endlich ! Ob er nun vielleicht die Absurdität dieser Anordnung erkennen kann ? Warum sollten wir beide jetzt in der Öffentlichkeit Abstand voneinander halten ? Welchen Sinn sollte das ergeben? Nun, wir halten Abstand – was nicht so schwierig ist, da meine Frau ihre Einkäufe immer äusserst zielgerichtet durchführt und ich dagegen immer empfänglich bin für neue Ideen, die sich in den Gängen auftürmen. Am Rindenmulch-Bereich (unglaublich, wieviele verschiedene Sorten hier feilgeboten werden !) müssen wir uns dann näherkommen. Die 45-Liter-Säcke kann Sie alleine schlecht bewegen. Also packen wir sie zu gemeinsam an. Das Sonderangebot gilt ab einer Abnahme von 12 Stück – nun bewährt sich, dass wir zwei Wagen haben. Die Karren sind jetzt einigermaßen schwer und wir schlingern mit großem Kraftaufwand durch die Gänge zur Kasse. Die Kassiererin gestattet die gemeinsame Bezahlung beider Wagen – offensichtlich hat es hier noch keine Dienstanweisung des Corona-Beauftragten gegeben….
Draußen macht sich das seitlich leicht abfallende Gelände nun bemerkbar. Verbissen arbeiten wir gegen die Schwerkraft. Der Security-Mann feuert uns an. Felicitas entgegnet ihm erbost „Früher hätten die Männer einem jetzt geholfen!”
Andrea Gärtner
Über das Beschneiden, 26. März 2020
(Foto von der Autorin)
Die Sonne scheint. Die Forsythien blühen. Ich nutze die Gelegenheit und schneide die Rosen im Vorgarten. Ich hätte nie gedacht, dass gärtnern mir Spaß machen würde. Als Kind habe ich das Unkrautzupfen im elterlichen Garten gehasst. Heute empfinde ich es als Meditation und die Sorge um den Garten als natürlichste aller meiner Verbundenheiten mit einem „draußen“. Trotzdem bleibt mein Wissen auf diesem Gebiet rudimentär. Vieles mache ich aus dem Bauch heraus, anderes lese ich im Internet nach. Oder ich frage die alte Nachbarin, deren Garten doppelt so groß ist, wie unserer und die trotz ihres Alters „wie ein Terrier“ in ihrem Garten wühlt – wie mein Mann immer sagt. Jene Nachbarin hat ein schier unerschöpfliches Garten- und Pflanzenwissen.
Ich weiß immerhin, dass man Rosen schneidet, wenn die Forsythien blühen. Nun bietet unser Vorgarten eine bunte Mischung: Stammrosen, Bodendeckerrosen und Beetrosen. Welche wie oft und wie weit zurückgeschnitten wird, lese ich nach und dann geht’s los.
Die Bodendeckerrosen habe ich in den letzten Jahren wachsen lassen. Sie sind groß geworden und derart wild verzweigt, dass ich ihnen nur mit dicken Lederhandschuhen zu Leibe rücke. Ich arbeite mich von unten nach oben und schneide alle Triebe rigoros zurück. Der Wind weht, die Katze streicht um meine Beine und vom Dachfirst zwitschern Vögel herunter. Meine Gedanken gehen auf Wanderschaft.
Pflanzen müssen regelmäßig geschnitten werden, damit sie gedeihen. Es gibt den Erziehungsschnitt, den Verjüngungsschnitt oder auch den Wachstumsschnitt. So hält man die Pflanze gesund, in Form und blühfreudig.
Auch wir werden gerade beschnitten. Unser Leben, unser Alltag, unser Miteinander ist rigoros verknappt. Dient das unserer Erziehung, Verjüngung oder dem Wachstum? Kann es sein, dass wir am Ende der Coronakrise aufgeräumt, blühend und gesund dastehen?
Ein Geruch steigt mir in die Nase. Ich brauche eine Weile, bis ich erkenne, was es ist. Im letzten Jahr waren unsere Rosen stark befallen und nachdem alle ökologisch wertvollen Mittel nicht geholfen haben, wurden sie mit einem Fungizid besprüht. Das ist der Geruch. Monate später steigt er mir unverkennbar in die Nase. Wie gut, dass ich einen Großteil der Triebe wegschneide und die Reste dieses Giftes damit entsorge. Die Rosen können nun neu ausschlagen und müssen hoffentlich nicht wieder „begiftet“ werden.
Welches Gift wird uns gerade ausgetrieben? Wie lange wird es dauern, bis unser Leben wieder ausschlägt, neue Triebe ermöglicht und befreit von Altlasten zu neuer Schönheit aufblüht? Und wird es uns gelingen, das Gift in Zukunft wegzulassen?
Während ich weiter die dornigen Triebe schneide ertappe ich mich bei dem Gedanken, was wohl die Nachbarin sagen würde, stünde sie jetzt neben mir. Obwohl ich vorher nachgelesen habe, was zu tun ist, fürchte ich, sie könnte die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und „Was machst du denn da? Du ruinierst deine ganzen Rosen!“ ausrufen.
Ist es das? Geht es doch nicht um einen Beschnitt, der zu besserem Leben führt, sondern wird stattdessen unser Leben gerade ruiniert? Und wer kann mir diese Fragen beantworten?
Ursula Cole
Schokolade und die Weite des Meeres, 27. März 2020
Am Morgen bin ich trotz des schönen Wetters mit einem trübseligen Gefühl aufgewacht. Auch der Blick aus dem Fenster, der mir normalerweise zu versichern scheint, dass die Welt hier noch in Ordnung ist, hat nicht geholfen.
Es war ungewöhnlich still. Niemand zu sehen – kein Bauer mit dem schwer mit Olivenzweigen beladenen Pick-up in Sicht. Die bringt er den Schafen und den Ziegen auf die kargen Weiden. Aber klar doch: ich bin sehr spät dran an diesem Morgen… also nur verpasst – alles ist wie immer.
Meine Gedanken drehen sich schon beim Aufstehen um das Virus, dessen Gefahren ernst sein müssen – wie sonst kann ich mir erklären, dass die unendlich entspannten Kreter die Regeln der Regierung in dieser Sache mit aussergewöhnlichem Ernst befolgen? Die Kreter sind ein eigenwilliges Volk: selbstsicher, ‘aufmüpfig’ und kämpferisch und doch so entspannt; sie unterwerfen sich nur ungern. Sie verstehen die Gesetze als freundliche Ratschläge, allenfalls Vorschläge, die man je nach Lust und Laune befolgen kann oder auch nicht (wobei hier in der Regel eher Nichtbefolgen angewendet wird). Also mache ich mir heute mehr Sorgen als sonst, weil sie diese Krankheit doch sehr ernst nehmen.
Ich beschliesse nach Chania zu fahren, denn mein Notebook benötigt einen Supporter: Gottseidank habe ich einen Grund gefunden zu fahren, denn eigentlich müsste ich in meiner engsten Umgebung bleiben. Anschliessend spaziere ich zu meinem Lieblingsgeschäft (Fairtrade- und Bio-Produkte) und decke mich hamstermässig mit 90%-Kakaoanteil-Schokolade ein (für die 10 Tafeln ‘Schoggi’ schäme ich mich entsprechend, da ich Hamsterkäufe echt daneben finde!). Ich kaufe weitere Bio-Leckereien und Biogemüse und kein Toilettenpapier. Aber bedeuten 10 Tafeln bereits Hamsterkauf? Ab welcher Menge wird gehamstert? Ab dann, wenn für die anderen nichts mehr übrig bleibt?
Ich werde jetzt ein bisschen ‘verwegen’ und wage mich bis zur super Kaffeebar, die weiterhin geöffnet bleiben darf – selbstverständlich nur für ‘take-away’ Service oder ‘paketo’, wie man hier sagt. Der doppelte Cappuccino riecht und schmeckt hervorragend und ich spaziere damit so langsam wie nur möglich zum (fast) leeren Parkplatz. Das Stückchen Schokolade, welches eben das Tüpfelchen auf dem ‘i’ gewesen wäre, verkneife ich mir – keine Handschuhe, mehrere Türgriffe berührt, Auto gefahren – schade! Also hat das Virus uns überall im Griff (zuhause jedoch ertappe ich mich, dass ich immer noch oft mein Gesicht und meine Lippen berühre). Ich werde jetzt noch mutiger und entschliesse mich dazu, noch einen Stopp in Kalyves einzubauen, da ich das weite Meer und dessen Rauschen sehr vermisse. Ich habe noch ein leeres Formular bei mir und fülle es aus (Gassigehen mit Hund)… es hat sich gelohnt! Der Spaziergang am Meer (meine Hündin ‘Rena’ rast wie wild auf dem Sandstrand auf und ab) und die wunderbare ‘Schoggi’, die in meinem Auto auf mich wartet, haben meinen Tag gerettet.
Rita Lindner
Katzenbüfett, 28. März 2020
Das Katzenfutter war knapp geworden. G. wollte gestern mit dem Fahrrad in die Stadt, um Nachschub aus seinem Lieblingstierbedarfs-Laden zu holen. Dort gibt es eine wesentliche größere Auswahl an Futter für Katzen als im Supermarkt, unter anderem Pferd und Elch. Mich schüttelt es bei dem Gedanken, dass unser Kater ein Pferd auffrisst, aber der Kater nimmt es gern zur Abwechslung. G. erlaubt sich wahrscheinlich nicht, darüber nachzudenken. Er weigert sich nur, für den Kater Lamm oder Kalb zu kaufen. Diese Tiere liebt er zu sehr.
Es war sehr kalt draußen, nur wenige Grad über Null. Ich wollte nicht, dass G., der herzkrank ist, bei dieser Kälte Rad fährt. Ich habe mich also aufgerafft, ihn mit dem Wagen zu chauffieren. Er selbst fährt schon Jahre nicht mehr Auto.
Die Straßen in unserer Siedlung waren völlig ausgestorben. Zwei Fußgänger begegneten uns, kein anderes Auto. Die Innenstadt dagegen (unsere Stadt hat 40.000 Einwohner) wirkte fast normal. Nicht so voll wie sonst, aber keineswegs leer. Der Parkplatz, den sich der Tierbedarfs-Laden mit anderen Geschäften teilt, war nahezu voll belegt. Menschen stiegen ein und aus, verstauten Einkäufe. Aber es waren immer nur Einzelne pro Auto. Niemand trug einen Mundschutz, außer der Kassiererin im Geschäft. Sie saß außerdem hinter einer Plexiglasscheibe.
Ich wollte so schnell wie möglich zurück ins Auto und nach Hause. Inzwischen habe ich doch Angst vor einer Infektion. Wir gehören zur Risikogruppe. So spürte ich eine Art von Verfolgungswahn in mir aufsteigen, als ich die anderen Menschen auf dem Parkplatz sah. Ein verrücktes Gefühl.
Zuhause fühle ich mich sicher.
(Foto von der Autorin)
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