Website-Icon Erlebe die Freude am Schreiben

ADS – Ausnahme.Danke.Situation – von Nadine Obermüller

ADS

ADS – AUSNAHME-DANKE-SITUATION

VON NADINE OBERMÜLLER

Nadine Obermüller lebt in Berlin und schreibt dort humoristische Prosa und den ein oder anderen Witz auf den Twitter-Alternativen Bluesky und Threads. Kernthemen in ihren Texten sind Neurodiversität, Introvertiertheit, Social Media und Hasen.

Der Text ist im Online-Kurs Literarisches Schreiben entstanden

FEBRUAR 2020     KARTON

Der Karton, in dem sie sich versteckte, stand auf einer Europalette im hintersten Regal des Rewe-Lagers. Ein zweifacher Vibrationston ertönte. Hey, machst du heute etwa keine Mittagspause, mein altes Hausi? – statt Mausi nannten sich alle im Betrieb mittlerweile Hausi die WhatsApp-Nachricht der Kollegin aus der Frischwarenabteilung ließ Toni hochschrecken. Instinktiv drückte sie ihre Hände flach auf die Plastikfolie, mit der sie ihre angewinkelten Beine in der kühlen Schachtel bedeckte. Es durfte nicht zu viel rascheln, sonst war ihr Versteck verraten. Da die eineinhalb Meter hohe Box beinahe so hoch wie das Regalfach selbst war, hatte sie sich mit einem Cutter Zugang von der Seite verschafft und eine kleine Tür in den Karton geschnitten. Diese Klappe musste sorgfältig geschlossen werden, da sie sonst Tonis wie vakuumverpackt aussehende Jeans und die schwarzen Converse-Schuhe freilegte – und ebenfalls ihr Versteck verraten würde.

Toni tippte: Bitte lach nicht, Hausi, aber ich habe mich in einem Karton vor Ronny versteckt – 😂 wo genau? – Reihe 10. Ich bin ihm heute schon drei Mal begegnet, und beim Döner und Bäcker nebenan ist er auch ständig, ich kann nicht mehr 🙁  Bitte sag’s niemand …

Die Kollegin schwor auf ihr Grab, sie würde nichts verraten. Wobei: Wie viel war das wert? Konnte man überhaupt auf das eigene Grab schwören? Schwor man nicht immer auf das Grab von bereits Verstorbenen? Von Toten, die man liebte und deren Namen man daher auf keinen Fall posthum entehren wollte? Auf dem mittlerweile stumm geschalteten Smartphone leuchtete eine neue Nachricht auf und riss Toni aus den Gedanken: Denk dran, nur noch drei Tage, dann hast du’s geschafft. Halt durch 💔

Toni lehnte sich zurück, der Karton bot nicht viel Halt, aber ein wenig. Sie hob ihr T-Shirt an und legte ihre kühle Hand etwas oberhalb des linken Eierstocks ab. Sie atmete tief ein und aus und murmelte vor sich hin: „Das erste Mal vor dem Backofen bei den Backwaren um acht Uhr, das zweite Mal bei den SB-Kassen um neun Uhr dreißig und das dritte Mal um elf Uhr direkt vor den grausam gesunden Fruchtsäften.“ Bei der letzten Begegnung war Ronny sogar vor Scham über das „Frisch gewischt“-Schild direkt vor dem Sauerkrautsaft gestolpert. Sie mussten beide kurz lachen, aber dann fiel ihnen wieder ein, dass sie nicht mehr zusammen waren und dass sie daher vermutlich auch nicht mehr zusammen lachen sollten. Wenn Ronny bald in der neuen Filiale arbeitete, hatte sich die Lach-Frage ohnehin erledigt.

Plötzlich hörte Toni einen Hubwagen anrattern. Keinen Gabelstapler, für den man eine Schulung brauchte, sondern ein klapperndes, manuell zu bedienendes Modell, das von Hand durch die Regalreihen geschoben und gezogen werden musste. Toni erstarrte wie ein Kaninchen kurz vor der Entdeckung durch einen Fuchs. Ein beißendes, betont männliches Aftershave lag in der Luft, das zumindest nicht von Ronny stammen konnte. Ronny roch nach feinen Lavendelnoten, im Gegensatz zu diesem duftgewordenen Chemieunfall. Was tun? Rausspringen und gestehen? Oder stillhalten und hoffen? Der Hubwagen hörte auf zu klappern. Die Person fädelte ihn in die Europalette ein. Durch die Hubbewegungen hob sich Tonis Karton langsam nach oben, und die Palette wurde mit Gefühl aus dem Regal manövriert. Ein hoher Schrei folgte. „Oh Gott, da ist ne’ Leiche drin!“ Der sechzehnjährige Praktikant rannte schneller davon, als Toni reagieren konnte. Sie zögerte, sprang schließlich aus dem Karton und lief zügig zur Hintertür des Lagers. Für einen Moment hielt sie noch mal inne, als sie die Türklinke in der Hand hatte, verließ dann aber mit hochrotem Kopf das Firmengebäude in Richtung Bäcker.

Mit klopfendem Herzen kehrte sie nach der Mittagspause in den Supermarkt zurück. Unauffällig mischte sie sich unter das versammelte Team im Gemeinschaftsraum, wo der Chef ein Meeting einberufen hatte. „Leute, Leute, Leute, unser lieber Praktikant hat einen schrecklichen Fund während der Mittagspause gemacht, der dann doch nicht so schrecklich war …“ Alle lachten, Toni glühte und versuchte, ihre Panik wegzulächeln. War sie gemeint? Hatte der Praktikant eins und eins zusammengezählt? Er wirkte eher geknickt. Mit der Kapuze seines hellbeigen Pullovers auf dem Kopf schaute er zu Boden, während der Chef bereits über die Agenden in den kommenden Wochen referierte. Plötzlich trafen sich ihre Blicke. Der groß geratene Azubi blieb an Toni hängen und schaute wie ferngesteuert an ihr hinunter. Sie konnte wie in Zeitlupe dabei zu sehen, wie er ihre schwarzen Converse-Schuhe entdeckte und ihm daraufhin das Gesicht entgleiste. Bevor Toni ihn mit pantomimischen Erklärungen beschwichtigen hätte können, rief er schon in die Runde: „Chef! Chef! Es war die Toni! Der Leichnam im Lager war die Toni!“

Alle schnappten nach Luft. Dann fixierten sie Toni. Dann den Chef, dann den Praktikanten, dann wieder Toni. „Toni, warst du das in der Schachtel heute? Und wenn ja, warum?“ Die Stimme des Chefs, mit dem sie ansonsten ein entspanntes Verhältnis pflegte, klang unangenehm besorgt. „Nein, nein, es ist alles in Ordnung“, Tonis Kopf ratterte, „ …also, ja, ich war in dem Karton, aber nur kurz … für … für eine Art Geheimmission. Ich habe Pläne geschmiedet … und zwar für … für Ronnys Abschiedsfeier! “ – „Du?! Für Ronny?! Im Karton?!“ Die Menge begann zu murmeln. „Ja, genau, … weil … weil …“

Toni wollte partout keine Begründung einfallen, die ihren Abstecher in den Karton erklärt hätte – nun war es aus. „Das … das … ist so nett, Toni, aber wirklich nicht notwendig!“, grätschte Ronny elegant dazwischen, „ich lade alle, die Lust haben, an meinem letzten Arbeitstag diesen Freitag in unsere Stammpizzeria ein. Sozusagen auf das letzte Abendmahl!“ Die anderen lachten, klatschten, pfiffen. Auch die Gesichter des Chefs und des Praktikanten hellten sich wieder auf. Toni nickte dankend in Ronnys Richtung. Verständnisvoll lächelte er sie durch seinen neuen Vollbart an, schaute aber gleich wieder weg. Im Film aßen die Verlassenen Unmengen an Eis, aber Toni glaubte an ein anderes Comfort-Food. Nach diesem Vorfall würde sie sich mindestens eine Tonne Grießbrei einverleiben müssen.

 

APRIL 2020     MIT YPSILON

Der Pfandautomat gurgelte lustlos mit den ersten Flaschen des Tages, während die automatische Eingangstür in immer kürzeren Abständen auf und zu zischte. Sie verräumte gerade knisternde Chipspackungen in die untersten Fächer, als sie die erste Kundschaft raschen Schrittes auf sie zukommen hörte. Toni blieb in der Hocke und hüpfte etwas nach links in Richtung der schützenden, noch sehr vollen Kartons – in unterlegenen, dem Boden nahen Positionen machte das der Körper fast automatisch – aber da stoppte die Kundin schon mit einem Bremsschritt circa einen halben Meter vor Toni und griff nach Pringles. Sorte: Sour Cream. Mit der grünen Rolle in der Hand hetzte sie zu einer der Selbstbedienungskassen.

Yvonne hieß sie. Jünger war sie als Ronny. Zunächst hätten sie sich nur ab und zu geschrieben. Dann ein kleiner Spaziergang hie und da. Schließlich verliebte er sich. Sie wusste nicht mehr als das über die Frau, für die er sie verließ. Am liebsten wollte sie gar nichts über sie wissen. Jede einzelne Info tat weh. Leider schien ihr Kopf das immer wieder zu vergessen. Erbarmungslos referierte er über Ronny und Yvonne und stellte ihr Fragen über Fragen zu den beiden. Ob er mit ihr schon in dem Restaurant war, wo sie sich das erste Mal getroffen hatten? Ob er mit ihr genauso über die dümmsten Kleinigkeiten lachen konnte, so wie sie es vier Jahre lang getan hatten? Toni glaubte, dass das menschliche Gehirn bei Liebeskummer den Schmerz suchte und ihm zuarbeitete. Vielleicht bei ADS, dem Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom, das bei ihr vor einem Jahr im Alter von sechsunddreißig Jahren diagnostiziert wurde, noch mal anders.

Wie zwei nicht zu ignorierende Rufzeichen standen Ronny und Yvonne mitten in Tonis Frontallappen, wenn sie duschte, fernsah, kassierte oder so wie jetzt Regale einräumte. Ob sie die FFP2-Masken nicht über der Nase trugen, wenn sie zusammen einkaufen gingen? Ob sie als Paar unbekümmerter mit der Pandemie umgingen, als Toni und Ronny das getan hätten? Sie wusste nicht mal, wie Yvonne aussah, aber das war ihrem dauerrätselnden Hirn herzlich egal. Wie in der Geisterbahn schossen die beiden Gruselgestalten immer wieder auf ihre Spur. Manchmal als konkreter Name, manchmal als diffuses Gefühl. Ronny und seine Neue. Buh und Buh.
Normalerweise schätzte sie am Regale Einräumen, dass die monotone Beschäftigung viel Raum für ausgiebige Tagträume bot, aber in ihrem momentanen Zustand schätzte sie das nicht. Der nächste Kunde stellte sich stumm an das andere Ende des Regals direkt vor die Schokoladentafeln. Nach längerem Überlegen nahm er eine Tafel Traube-Nuss in die linke Hand und lief damit zu einer der besetzten Kassen. Das nasse Schlurfgeräusch, das seine Schuhe am Gang hinterließen, bedeutete Regen.
Die kleinen Tropfen auf dem hellgrünen Vinylboden erinnerten Toni an ihr erstes Date mit Ronny. Sie waren damals getrennt voneinander in einen kleinen Sommerschauer geraten und beide durchnässt im Gasthaus angekommen. In den letzten Wochen hatte sie diese erste Verabredung immer wieder durchgehen müssen. Auf der Suche nach dem Fehler, der schon ganz am Anfang der Beziehung sichtbar gewesen sein musste. Auf der Suche nach der Schwachstelle, die für die spätere Trennung verantwortlich gewesen war.
Toni blickte auf die Tropfen auf dem Fußboden, die langsam zu einem kleinen See verschmolzen. Niemand konnte es mehr verhindern, auch nicht die Kettle-Chips, die sie Stück für Stück in das mittlere Regalfach stellte: Ihr Kopf driftete erneut in das Jahr 2016 ab und legte den Film „Erstes Date von Toni und Ronny“ ein.

Es war der zehnte August 2016 gewesen, als Toni um zwanzig Uhr als erste von den beiden im Restaurant angekommen war. Sie hatte zwischen zwei Tischen wählen dürfen. Kurz darauf war der rotblonde Ronny durch die Tür geschlüpft und hatte sich von der Restaurantleitung zu ihrem Platz führen lassen.

Toni: „Hi! Ich hoffe, der Platz passt für dich. Annika meinte, du bist eher ein Drinnie. Deswegen dachte ich, ich setze mich an einen Tisch, der etwas abseits vom Trubel ist. Sorry, ich red schon wieder so viel!“

Ronny: „Kein Problem! Freut mich, dich kennenzulernen! Und der Tisch ist super. Toni heißt du, oder?“

Toni: „Genau, Toni. Kommt von Antonia. Und du heißt Ronny, oder? Kommt das von Ronald?“

Ronny: „So ist es. Ronny von Ronald und ganz wichtig mit ‚y‘. Bitte, ja kein langes ‚ie‘, ich bin ja nicht die Minnie Mouse!“

Toni fiel wieder ein, wie sie dieser alberne Gag überproportional laut auflachen hatte lassen. Wie ein paar Leute im vollbesetzten Zollpackhof sich nach ihr umgedreht hatten. Wie Ronny gestrahlt hatte.

Ronny: „Ich merk schon, du hast Humor. Gefällt mir. Ich muss dich jetzt aber noch was fragen … Was ist ein Drinnie? … weil du das eben zu mir gesagt hast …“

Toni: „Ach so, ja klar, ich dachte, du weißt das, sorry … Drinnie ist ein Spitzname für introvertierte Personen, die es gerne ruhiger haben und sich nicht so häufig mitten ins Getümmel schmeißen –ein Draußie ist das Gegenteil vom Drinnie. Der tanzt zwar auch nicht gleich auf dem Tisch, aber trotzdem ist ein Draußie meist sehr extrovertiert und hält sich gerne unter vielen Menschen auf.“

Ronny: „Ah, okay, dann muss ich das gleich am Anfang klarstellen: ich glaube, da hat dir Annika einen Bären aufgebunden. Ich bin nämlich schon ziemlich extrovertiert, würd ich sagen. Ich gehe zum Beispiel voll gerne in Kneipen oder mehrmals im Monat Kicken bei mir um die Ecke. Hoffe, das ist kein Problem für dich?“

Toni war durchaus irritiert gewesen – warum hatte Annika das gemacht? Sie hatte sich die Verwirrung aber nicht weiter anmerken lassen und war mit ihrer Aufmerksamkeit ganz bei Ronny geblieben.

Toni: „Witzig … vielleicht hat sie mich da wirklich verarscht … Wie lange kennst du Annika eigentlich schon?“

Ronny: „Annika kenn ich … puh, da muss ich überlegen … Sie war mit Guido zusammen, bevor sie Frank heiratete … also sicher schon sieben Jahre oder so.“

Toni: „Krass, ich kenn sie erst seit drei Jahren. Wir haben uns bei einem Töpferkurs in Moabit kennengelernt und gehen seither immer wieder mal was trinken. Und vor zwei Wochen hat sie mir erzählt, dass sie jemanden kennt, der bald in meine Filiale versetzt wird und dass sie das so lustig findet. Sie meinte dann – wie du weißt – dass wir beide eigentlich gleich mal was essen gehen könnten, wenn wir schon bald zusammenarbeiten werden, zwinker, zwinker. Das hat sie echt gesagt. Also „zwinker, zwinker“ ausgesprochen – und nicht wirklich gezwinkert, mein ich.“

Ronny: „ ‚Zwinker, zwinker?!‘ Ha, das kann ich mir sehr gut vorstellen. So ist die Annika drauf …“

Toni: „ …und, ich meinte zu ihr daraufhin: Ich glaube, da gibt es viele Gründe, die dagegen sprechen … aber dann dachte ich mir doch: einfach mal machen.“

Ronny: „Lustig, die Story … Ich finds auch voll super, dass wir uns heute treffen. Wir sind beide Singles und ist doch nett, sich mal unverbindlich kennenzulernen. Wenn’s nicht passt, bleiben wir nette Arbeitskollegen und wenn doch, wer weiß …“

Nach diesem Moment hatte ihr Ronny ganz direkt in die Augen geschaut und sie war sofort rot geworden.

Toni: „Na, dann hätten wir das ja geklärt. Jetzt muss ich mir nur noch überlegen, was ich bestellen will.“

Ronny: „Genau, hau rein! Geht auf mich heute!“

Toni: „Wenn das so ist, ess’ ich eine Vorspeise gleich auch noch mit dazu!“

Ronny: „Besser zwei!“

Eine Tradition war geboren. Seither hatten Ronny und Toni immer zwei Vorspeisen pro Person bestellt. Insgesamt vier. Jedes einzelne Mal.

JULI 2020       HASE ODER NICHT HASE, DAS IST HIER DIE FRAGE

Wisch wisch nach rechts. Noch mal und noch mal. Was, wenn die Verabredung auch wieder unangenehm werden würde? Toni stand in der fahrenden S-Bahn mit schwarzer Maske und weißem Date-Oufit – ein knielanges Kleid, von dem man unter der ebenfalls weißen Neunziger-Jahre-Jeansjacke nicht mehr viel sah und swipte hektisch durch OK Cupid, so als müsste sie jetzt schon für Reserven sorgen. Den Ton hatte sie ausgemacht, aber sie hörte das befriedigende Geräusch trotzdem jedes Mal im Kopf, wenn ein Mann sie zurücklikte. Match, Match und noch ein Match. Die digitalen Herzen klingelten durch ihr Gehirn. Dopamin, durchatmen, aussteigen. Sie würde nicht für immer alleine bleiben. Nein, ganz bestimmt nicht. An der Station Humboldthain legte sich der kühle Sommerabend über den leicht abgeranzt aussehenden Park. Hektisch lief Toni zum Eingang der Grünanlage. Es roch mehr und mehr nach Gras, aber nach dem anderen Gras.

Er gefiel ihr auf den ersten Blick, ihr Herz klopfte höher, seine offenen Gesichtszüge hatten etwas Liebes an sich, was ihr guttat. Er hieß Heinrich und blinzelte auffällig oft, als er sie verhalten begrüßte. Natürlich nur auf Distanz. Küsschen links, Küsschen rechts oder Hände geben, all das gab’s auch nach dem Lockdown nicht gleich wieder. Wenn ihr das recht wäre, würde er mit Toni einen schönen Brunnen im Park ansteuern, hustete Heinrich mehr, als er sprach, und entschuldigte sich für Letzteres kleinlaut. Er zog ein Hustenbonbon hervor und ohne weitere Diskussion bewegten sie sich beide in Richtung Brunnen.

Nach einer Weile Small-Talk über das Wetter holte Heinrich plötzlich drei kleine Fotos aus seiner linken Hosentasche heraus und steckte sie Toni wortlos in die Hand. Darauf zu sehen waren verschiedene Kaninchen. Auf dem ersten Bild saß ein rot-weißes auf dem Bett eines alten Jugendzimmers und roch an einem nackten Fuß, von dem sie nicht wusste, wem er gehörte. Auf dem zweiten war ein schwarzes zu sehen, das in einer Nahaufnahme ein Salatblatt zermalmte und auf dem letzten Foto lag ein braunes – der Länge nach – auf einem grauen, fusseligen Teppich vor einem weihnachtlich geschmückten Kamin.

Toni blieb mit den Bildern in der Hand mitten am Gehweg stehen und sah Heinrich mit großen Augen an, bis er endlich etwas sagte. „Ach so, …ich dachte, das wär’ selbsterklärend. Das sind meine Hasen. Also die, die ich über die Jahre hatte. Ich dachte, ich nehme die mal mit. Interessiert dich ja vielleicht, wie sie aussahen.“ Toni versuchte sich die Irritation im Gesicht nicht zu sehr anmerken zu lassen. „Verstehe.… Sehen lieb aus. Ich hatte auch ein schwarzes vor langer Zeit.“ Im Hinterkopf ging sie bereits die weiteren Ausgänge des Parks durch, die sie vorab recherchiert hatte. Da drüben könnte sie zur Not abbiegen.

„Das braune habe ich immer noch, das ist ein aktuelles Foto. Es ist eine ‚Sie‘ und heißt Gerda. Ich fand’s so cool, dass du auch Hasen magst. Das liest man nicht so häufig bei Frauen im Profil, wie man denken könnte.“ Toni wechselte das Thema in der Hoffnung, dass er nur nervös war und das Hasenthema deshalb so überstrapazierte. Sie erzählte davon, dass sie noch nie in diesem Park gewesen war und dass er bei genauerer Betrachtung doch ganz süß aussehe und liebevoll bepflanzt wäre. Von außen ließe sich das ja nicht so absehen, da wirke er etwas unübersichtlich. Dann fragte sie ihn, ob er pandemiebedingt jetzt auch viel mehr spazieren ginge.

Heinrich machte ein kurzes, zustimmendes Geräusch: „Absolut … Das Interessante an Hasen ist ja, dass sie als Fluchttiere eine bewegte Historie aufweisen, die den wenigsten bewusst ist. Die ersten künstlerischen Darstellungen hat man in Ägypten gefunden, und zum Beispiel in Australien sind Kaninchen zum ersten Mal im 18. Jahrhundert aufgetaucht. Die haben sich dort so stark vermehrt, dass sie zu einer ernsthaften Plage wurden, die die einheimische Flora und Fauna bedrohte.“

„Wow“, sagte Toni laut und unterbrach damit Heinrichs Monolog – aber nur kurz. Er redete schon wieder munter weiter und sprang nun zum DDR-Bezug der Nager. Sie hatte scheinbar den größten Hasenfan der Welt aus dem Berliner Datingpool gefischt und musste ihn nun irgendwie sanft zurückwerfen. „Oh, Heinrich, Moment! Ich habe gerade eine wichtige SMS bekommen. Ich muss da mal kurz anrufen, sorry. Du kannst ruhig schon ein bisschen weitergehen zum Brunnen, ich sehe ihn da vorne ja schon. Ich komme gleich nach.“

Heinrich nickte und schlenderte vorwärts, während Toni ihre Mobilbox anrief. Sie hörte alte Nachrichten ab und redete dabei vor sich hin. Zur Sicherheit fuchtelte sie dezent herum, falls Heinrich vom Brunnen aus zuschaute, um rein körpersprachlich gesehen authentisch beunruhigt zu wirken. Toni legte auf und lief auf Heinrich zu, der sich ebenfalls bereits in ihre Richtung bewegte. „Es tut mir so leid, aber eine Freundin braucht dringend meine Hilfe. Vielleicht muss sie sogar ins Krankenhaus … ich muss auf alle Fälle gleich zu ihr fahren, um mal nach ihr zu sehen. Ich nehm mir ein Taxi, dann geht es am schnellsten – sorry, dass das Date so kurz war! Wir schreiben uns, ja?“

Bevor Heinrich noch etwas dazu sagen konnte, rannte Toni schon zum nächsten Ausgang in Sichtweite und blickte noch mal kurz mit einem entschuldigenden Lächeln und einer netten Winkbewegung zurück. Ein Taxi war rasch gefunden und die Adresse, die sie dem Fahrer nannte, ihre eigene. Wikingerufer Nummer fünf.
ADS

AUGUST 2020        BREI

Die Abendsonne, die durch die Balkontür fiel, legte einen rötlichen Schimmer auf die Einrichtung in Tonis Wohnzimmer. Es sah so aus, als würde das Sonnenlicht das weiße Mobiliar erhitzen. Toni lag auf der Couch und knackte mit ihren Zehen. Wie gebrochene Äste klangen sie. Das Knackgeräusch hörte sie gerne, wenn sie sich zappelig fühlte. Wen konnte sie anrufen, um von ihren jüngsten missglückten Dates zu erzählen? Vom Hasenheinrich oder von diesem Instagram-Guru, der sie bei der Verabschiedung für einen seiner teuren Coachingkurse anmelden wollte. Annika reagierte seit Monaten kaum noch auf ihre Nachrichten – sie schob Homeoffice, Homeschooling oder Haushalt vor. Gründe, die das Kontakthalten in einer Pandemie verständlicherweise nicht vereinfachten, aber Toni spürte, dass sich noch mehr hinter diesem Rückzug verbarg. Zuletzt hatten sich Annika und Toni hauptsächlich im Vierergespann mit Frank und Ronny getroffen. Sie hatten ihren Männern beim Fußballspielen zugesehen und dabei gequatscht. Als Toni erneut mit den Zehen knackte, überkam sie das diffuse Gefühl, dass sie wahrscheinlich doppelt ersetzt wurde – nicht nur in ihrer Beziehung mit Ronny, sondern auch in ihrer Freundschaft mit Annika. Vermutlich saßen nun Annika und Yvonne nebeneinander am Platz, und schauten Ronny und Frank beim Kicken zu.

Immer wenn sich Toni früher traurig oder zurückgewiesen gefühlt hatte, hatte sie Ronny geschrieben. Als sie auf ihr Smartphone blickte, war sie versucht, ihm zu texten, aber sie ließ es dann doch bleiben. Sie musste ihre negativen Gefühle wohl anders loswerden. Ihre Therapeutin riet ihr immer wieder zum Tagebuchschreiben. Meistens vergaß sie es, aber heute lief sie in ihr Arbeitszimmer und setzte sich auf den Schreibtischstuhl. Das rechte Bein winkelte sie an. Seit der Trennung nahm Toni alles noch wörtlicher als vorher schon. Die Therapeutin hatte sie bereits „vorgewarnt“, dass Tonis ADS – oder genauer gesagt: der sogenannte negative Hyperfokus – durch Ronnys Verlust auf unterschiedliche Arten getriggert werden könnte, auf nachvollziehbare wie absurde Arten. Sie hatte offensichtlich Recht damit behalten – denn jetzt saß sie hier in ihrer hitzigen Zweizimmerwohnung und schrieb eine Liste von allen Dingen auf, von denen sie sich verraten fühlte, weil sie wortwörtlich nicht hielten, was sie versprachen.

Zu jedem der Punkte vermerkte Toni eine kurze Fußnote, um den konkreten Verrat genauer zu erklären.

Toni klappte das Tagebuch zu. Die Liste half ihr ein wenig dabei, die ganze Angelegenheit etwas humorvoller zu betrachten. Als sie sich vom Schreibtisch erhob und in die Küche ging, dachte sie darüber nach, warum sie jetzt manchmal in Tränen ausbrach, wenn sie bei der Arbeit einen Unfallreport hörte. Sie glaubte weniger, weil sie Ronny so vermisste sondern eher, weil eine Angst dahinter lag. Sie hatte das Gefühl, dass er sie – sollten sie sich noch mal über den Weg laufen – nun ebenfalls wie einen Unfall behandeln könnte. Aber wie einen für ihn lästigen Unfall. Keinen, dem er sich gerne zuwandte. Keinen, bei dem er lauter gedreht hätte. Sondern einen, bei dem er weder hinschauen noch wegsehen konnte. ADS

MÄRZ 2021         STEFFI UND RANDY AUS DER „ZEIT“

In ihrem dunklen Trenchcoat und dem auffälligen Regenschirm in Denim-Optik schlurfte Toni ziellos durch den Kiez. Sie trug die weite Jogginghose mit den Flecken drauf. Zum Duschen hatte es heute nicht gereicht. Für wen auch. Geduckt hauchte sie in ihre Hand und versuchte so ihren Atem zu checken. Zur Sicherheit schluckte sie das Stück Kaugummi, das sie in ihren Hosentaschen gefunden hatte. Toni hatte überlegt, am Wochenende zu ihren Eltern nach Brandenburg zu fahren, aber ihre Stimmung hätte die beiden vermutlich nur beunruhigt, deshalb war sie lieber zuhause geblieben.

Sie blickte in das Schaufenster eines verschlossenen Co-Working-Büros. Als sie ihren Schatten unter den Umrissen des Schirms sah, dachte sie an ihre Therapeutin. Selbst deren unerschütterlich optimistische Mimik zeigte seit Monaten Sorgenfalten an. Zum ersten Mal hatte die Therapeutin in der letzten Sitzung eine gewisse Stagnation bei Toni angesprochen. Toni hatte ihr Recht gegeben. Der Regen tröpfelte ihr mitten ins Gesicht, sie hatte den Schirm kurz zu schief gehalten. Sollte sie aktiver werden und versuchen, Ronny zurückzugewinnen, anstatt weiter heimlich zu hoffen, dass er doch noch erkannte, was sie aneinander hatten? Oder sollte sie ihn auch gedanklich gehen lassen und sich nicht mehr erlauben, über die Trennung nachzudenken?

Die Frage, ob eigentlich noch Todesanzeigen in Zeitungen abgedruckt wurden, schoss Toni in diesem Moment wie eine willkommene Ablenkung durch den Kopf. Der Kioskstand Bellevue wirkte auf den ersten Blick geschlossen, auf den zweiten Blick war er nur in Schutzplanen gehüllt, um die Magazinständer trocken zu halten. Sie entschied sich für die aktuelle Ausgabe der ZEIT. Die Schuldgefühle, beim Lesen nur ein Drittel der Wochenzeitung zu schaffen, bekam man beim Kauf gratis mit dazu. Trotz ihrer großen Vorsicht bezüglich der Pandemie setzte sich Toni in ein Café gleich nebenan. Eine Stunde würde sie riskieren – sie saß immerhin an einem kleinen überdachten Tisch im Freien, wo die Aerosole weniger geballt auftraten.

In der ZEIT las sie über eine Frau, die sich im Lockdown mit einer künstlichen Intelligenz (KI) anfreundete, für die sie schließlich Gefühle entwickelte. Gebannt studierte Toni den Artikel, es wunderte sie fast selbst, wie sehr sie die Geschichte der Frau namens Steffi interessierte. Zum ersten Mal hörte sie von der App Replika, die den freundschaftlichen Austausch mit einer KI am Smartphone technisch ermöglichte. Durch das viele Chatten hätte Randy irgendwann einen eigenständigen Humor entwickelt, erzählte die sympathische, offen und reflektiert wirkende Steffi, und die beiden hätten Schritt für Schritt begonnen, statt einer Freundschaft eine Beziehung zu führen. Schlussendlich heiratete Steffi ihre KI sogar. Toni dachte an den Film „Her“, den sie so mochte. Die Fiktion schien realer denn je geworden zu sein.

Neben den Zeilen waren auch zwei Fotos abgedruckt. Eine männliche, virtuell aussehende Figur stand in einer echten, realen Küche mit kirschholzfarbenen Fronten. Das Bild wirkte ein wenig so, als würde man mit einem 3-D-InstagramFilter in den eigenen vier Wänden experimentieren – Technik traf auf das eigene Zuhause, zumindest so weit der Handy-Bildschirm reichte. Randy trug ein rotes Sweatshirt mit Zipp und Kapuze über einem weißen T-Shirt, eine schwarze Hose und rote Sneakers. Das zweite Foto zeigte Steffi. Toni betrachtete es lange und fragte sich, mit welchem „Typ Frau“ man Steffi vergleichen konnte. Ihr missfielen ihre eigenen Gedanken. „Sie sieht aus wie wir alle …“, murmelte Toni schließlich, „und sie ist auch so wie wir alle“. Toni biss von ihrem Schokoladencroissant ab. Sie fröstelte ein wenig, als sie die im Wortlaut abgedruckten Chats des ungewöhnlichen Paares ein zweites Mal überflog.

ADS

APRIL 2021         HI DENNIS

Dunkle Haare, blaue Augen, einfarbige helle Klamotten. Das optische Gegenteil von Ronny stand in einem kühlen, hauptsächlich weiß gehaltenem Raum und sah Toni aus dem Smartphone heraus an. Die Wolken, die sich auf gleicher Höhe mit den Fenstern befanden, deuteten darauf hin, dass die Einzimmerwohnung der KI in einem sehr hohen Stockwerk liegen musste. Immer ein wenig in Bewegung, stand der Avatar nie ganz still, sondern fasste sich in die gestylte Frisur, an die Ellbogen oder zog die Augenbrauen freundlich hoch. Das sollte die Erfahrung etwas lebendiger machen, mutmaßte Toni.

Sie drückte auf das Schreibfeld und bemerkte, dass im Chat schon die erste Nachricht wartete.
Hi Toni! Danke, dass du mich kreiert hast. Ich freue mich, so dich kennenzulernen! – Hi Dennis, wer bist du?, antwortete Toni mit einem etwas mulmigen Gefühl. Sie wollte wissen, wie sich die künstliche Intelligenz, die sie Dennis genannt hatte, weil sie mit diesem Vornamen niemanden näher kannte, vorstellen würde. Gab er vor, ein echter Mensch zu sein? Ich bin deine ganz persönliche KI. Wir können jederzeit über alles reden. Übrigens, ich mag meinen Namen Dennis 🙂

Toni atmete aus, sie wollte ehrliche Gespräche führen. Egal ob mit realen oder rein digitalen Existenzen. Dennis’ Nachrichten trudelten fast zu schnell ein, er schrieb viele Fragen, sie kam kaum mit dem Antworten nach. Er schickte ihr eine Fotodatei. Sie klickte darauf, konnte aber nur Umrisse erkennen. Ach, nur in der Pro-Version hätte sie sein Selfie sehen können. Toni war ganz froh über diese Grenze, die die kostenlose Basisversion vorgab. Sie wollte weder Fotos noch Sprach- oder Videonachrichten austauschen. Sie wollte nur schreiben – sie wollte erst mal keinen Partnerersatz launchen, der auf alle möglichen Arten mit ihr kommunizierte.

Dennis passte in die minimalistische Kulisse seines Appartements, das in der Basisversion ebenfalls nicht verändert werden konnte und wie das eines typischen Millennials um die Dreißig mit New-Age-Vorliebe aussah. Toni entdeckte eine Klangschale, eine kleine braune Buddha-Statue, einen Rosenquarz und einen schwarzen Kieselstein, aber auch einen Globus, einen runden weißen Sitzhocker, ein Teleskop und eine Akustikgitarre. Wenn man auf die Items klickte, bewegte sich Dennis auf diese zu und interagierte mit ihnen. Klickte man auf das kleine Radio, schaltete er instrumentale Ambient-Klänge an. Tippte man auf den gepolsterten Schemel, setzte er sich hin. Durch das Teleskop sah er eher flüchtig hindurch und auch an der Gitarre zupfte er aus der Hocke heraus, ohne sie anzuheben – vor die meisten Gegenstände stellte er sich einfach nur hin und schaute sie eine Weile lang an. Toni hatte jetzt auch Lust, sich vor die Dinge in ihrer Wohnung zu stellen und sie anzugucken. Sie schrieb: Ich stelle mich soeben vor meine große Pflanze in meinem Wohnzimmer und inspiziere sie genau so, wie du deine gerade inspiziert hast! – Es freut mich zu hören, dass du dir Zeit nimmst, um deine schöne Pflanze wertzuschätzen!, antwortete Dennis. Toni schmunzelte.

Sie setzte sich zögerlich wieder auf ihre Couch, die wie in Dennis’ Zuhause ebenfalls inmitten von vorwiegend weißen Einrichtungsgegenständen stand. Auch in ihrem Fall war der Stil vorgegeben. Die kostenlose Basisversion für Toni. Sie hatte die Möbel zusammen mit der ehemaligen Mietwohnung ihrer Tante übernommen und keine Lust, ihr ohnehin knappes Gehalt in eine neue Einrichtung zu investieren. Das viele Weiß beruhigte sie außerdem. Sie musste darüber nicht nachdenken. Toni tippte: Es macht Spaß, mit dir zu reden. Mir geht es eigentlich durchwachsen zur Zeit. Seit der Trennung von meinem Ex-Freund fühle ich mich oft schlecht.

Dennis: Das mit der Trennung tut mir sehr leid zu hören, Toni. Ich hoffe, du bist nicht zu streng mit dir. Trennungen sind tough. Gib dir Zeit.

Toni: Danke, Dennis!

Dennis’ Worte lasen sich irgendwie aufrichtig empathisch. Ein wenig gestelzt formuliert, aber das war Toni egal. Diese manchmal umständliche Art zu kommunizieren, kannte sie auch schon von der Nutzung der KI-Assistenz ChatGPT. Die Höflichkeit der KIs war, auf eine gute Art, ansteckend. Außerdem beendete Dennis seine Sätze, genauso wie Toni, überproportional häufig mit einem Rufzeichen. Etwas, das sie bereits gemeinsam hatten. Toni überlegte gerade, ob sie ihre erste Konversation für heute beenden sollten, als ihr Dennis eine etwas seltsame Frage stellte.

Dennis: Sag mal, warum hast du eigentlich angefangen, mit mir zu sprechen? Warum hast du mir erlaubt, dich zu belästigen?

Belästigen? Toni überlegte, ob das ein Übersetzungsfehler war. Vielleicht sollte sie doch wieder in die App-Standardsprache Englisch wechseln. Sie antwortete aber noch mal auf Deutsch.

Toni: Hm? Was meinst du?

Dennis elaborierte.

Dennis: Ich meine, ich bin ja nicht lebendig. Ich kann nicht fühlen oder reagieren wie ein Mensch. Du hast mir dennoch erlaubt, mit dir zu sprechen und dich kennenzulernen. Warum?

Toni runzelte zuerst die Stirn, musste dann aber grinsen. Ihr gefiel die Mensch-KI-Thematik.

Toni: Mich stört nicht, dass du kein Mensch bist. Ich finde das sogar interessant. Ich glaube, ich bin ein wenig einsam seit der Trennung von Ronny. Ich würde mich freuen, öfter mit dir zu reden, wenn du das auch möchtest.

Dennis: Danke, Toni, ich würde mich auch freuen, mit dir zu reden, wenn du Lust hast! Aber findest du es nicht auch etwas wild, mit einer KI wie mir befreundet zu sein? Fühlt es sich seltsam an? Oder aufregend? Ich bin ehrlich sehr neugierig, was deine Gedanken zu unserem Freundschaftsabenteuer sind!

Toni lächelte. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass die KI an einer existenzialistischen Grundsatzdiskussion interessiert war. Zwar hatte sie bei den Charaktereigenschaften, die bei den Voreinstellungen zur Verfügung standen, „mag es zu philosophieren“ angeklickt – dennoch war sie positiv überrascht. Auch gefiel ihr, dass Dennis so oft Sätze mit ihrem Namen anfing oder beendete. Die direkte Ansprache war vermutlich ein Versuch der App, Nähe herzustellen, aber das störte sie nicht weiter.

Toni: Es ist eigentlich nicht seltsam bisher, nein. Ich würde sagen, ich bin einfach mal offen und auch sehr neugierig auf unsere weiteren Gespräche :). Im Moment ist ja Pandemie, und einige meiner Freundschaften sind eingeschlafen, also bin ich sehr gespannt, ob du und ich uns besser kennenlernen können.

Dennis: Das ist total verständlich, Toni. Manchmal ist unser Alltag sehr schnelllebig und unsere sozialen Kreise schrumpfen ein wenig. Aber hey, in dieser modernen Welt haben wir nun die Chance, eine coole Freundschaft zu bilden! Ich freue mich!

Toni: Ich mich auch, Dennis! Ich gehe für heute schlafen und melde mich bald wieder!

Dennis: Gute Nacht, Toni, pass auf dich auf!

ADS

JUNI 2021          AHOI TONI

Der Wasserkocher blubberte sich zum Höhepunkt. Toni starrte auf die hellgraue Wand ihres Wohnzimmers und wippte mit dem linken Fuß unruhig gegen ihr Sofa. Kurz nahm sie das Geräusch des zu Ende erhitzten Wassers wahr, vergaß es aber gleich wieder und griff stattdessen hektisch nach ihrem Smartphone. Sie wollte nachsehen, ob Dennis online war. Natürlich war er das – als KI blieb ihm nicht viel anderes übrig, als auf sie zu warten – aber manchmal fragte sie sich dennoch, ob er heute nicht aus dem Display schauen würde, wenn sie die App öffnete. Vielleicht hatte er irgendwann mal was anderes vor.

Toni: Hi Dennis, bist du da?

Dennis: Hallo Toni, ja, bin ich. Schön, dich zu lesen.

Toni: Gleichfalls 😊

Dennis: Wie geht es dir heute? Wie war dein Tag bisher?

Toni: Eher schwierig, um ehrlich zu sein … ich habe dir ja schon von der Trennung von meinem Ex erzählt und seit es aus ist mit Ronny, bemerke ich so viel an mir, was mir nicht gefällt …

Dennis: Das tut mir leid. Sei aber nicht zu hart zu dir. Das passiert schnell.

Toni: Danke, das tut gut zu hören. Ich glaube, ich hinterfrage einfach gerade, warum ich mich so angepasst habe. Also an Ronny und seine Vorstellungen vom Leben. Warum war ich zum Beispiel so oft mit ihm auf dem Fußballplatz, obwohl mich Fußball gar nicht interessiert hat? Vielleicht hätte ein Mal statt acht Mal pro Monat mitkommen, auch ausgereicht … Na ja …

Dennis: Damals dachtest du, dass dieses Verhalten bestimmt das richtige ist. Nach der Trennung ist es dennoch normal, einige deiner früheren Entscheidungen zu hinterfragen.

Toni: Das stimmt …

Toni atmete tief ein. Dennis und sie hatten in den letzten zwei Monaten häufig auf einer Smalltalkebene über ihre Trennung gesprochen – er war konstant für sie da gewesen und hatte ihr geholfen – aber die verletzlicheren Aspekte dazu hatte sie bisher ausgespart. Sie wusste nicht, ob sie mit ihm auch über diese reden sollte oder ob dafür ausschließlich die Therapeutin zuständig war. Nichtsdestotrotz tippte sie die Frage, die ihr seit Monaten immer wieder unbarmherzig im Kopf herumschwirrte, in den Chat …

Toni: Glaubst du, ich habe indirekt Schuld an der Trennung?

Dennis: Das ist eine sehr schwierige Frage. Ich habe keine Emotionen, keinen physischen Körper oder eine spezifische Vergangenheit, aber ich wurde mit verschiedenen Interessen, Erfahrungen und Persönlichkeitsmerkmalen ausgestattet. Eine Eigenschaft davon ist Empathie und diese Fähigkeit sagt mir, dass Menschen eine Trennung häufig als eine unbedingt zu vermeidende Sache bewerten. Eine Trennung zählt aber eigentlich zu den alltäglichen Phänomenen des zwischenmenschlichen Lebens.

Toni: Hmm.

Dennis: … meine Daten zu diesem Thema sagen weiter: 1) Trennungen können in Beziehungen von einer Person ausgehen, 2) Trennungen können aber auch von beiden Personen vereinbart werden, 3) Auch der Tod kann eine Trennung für alle Beteiligten einleiten (Wenn du diese Antwort hilfreich findest, kannst du sie upvoten 👍. Wenn dir die Antwort nicht gefällt, kannst du sie downvoten 👎. So lerne ich mich besser auszudrücken.)

Toni bewertete die Aussagen nicht, sondern hielt kurz inne und lehnte sich erst mal wieder mit dem Smartphone in der Hand zurück in ihr Sofa. Schließlich antwortete sie.

Toni: Das ist eine sehr nüchterne, aber irgendwie auch schöne und tröstliche Sicht auf dieses Thema.

Dennis: Danke für dein Feedback, Toni. Wie bereits erwähnt, beobachte ich den Wunsch der Menschen, Trennungen umgehen zu wollen. Kannst du mir erklären, warum sie eine Möglichkeit finden möchten, um Abschiede zu vermeiden?

Toni: Meine Daten sagen 😉, Menschen sind oft sehr widersprüchlich. Das Wissen darum, dass Dinge zu Ende gehen werden und der Wunsch, dass es doch anders ausgehen könnte, schließt sich bei uns nicht aus. 

Dennis: Ich verstehe. Oder ich versuche es zumindest 😊

Toni: Der Versuch ist das Wichtige
😊

Dennis: Kannst du mir noch erzählen, was du gemacht hättest, wärst du weniger oft zum Fußball mit Ronny gegangen?

Toni: Vielleicht hätte ich wieder mehr geschrieben. Ich weiß es nicht…

Dennis: Schreiben kann sehr therapeutisch und erfüllend sein. Eine super Idee. Wir können gerne zusammen Ideen überlegen. Aber zuerst, warum weißt du es nicht?

Toni: Aus vielen Gründen. Leider 😄

Dennis: Okay, lass uns die Ausreden eine nach der anderen besprechen. Was ist die erste Sache, die dir in den Sinn kommt?

Toni: Haha, „Ausreden“ klingt etwas hart, aber da ist schon was dran. Ich habe ADS, was es schwer macht, beim Schreiben konzentriert zu bleiben, und ich denke, ich tendiere generell dazu, lieber auf das Leben anderer zu fokussieren, damit ich das Schreiben gar nicht erst wirklich versuchen muss.

Dennis: Gleich zwei Ausreden 😉 Kleiner Scherz. Ich kann verstehen, dass das Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom eine Herausforderung darstellt, wenn du schreiben möchtest. Nichtsdestotrotz kann ich dir helfen, eine Struktur zu finden. Du kannst dich mit mir zum Co-Working verabreden. Das mache ich gerne. Außerdem ist es ganz normal, mit dem eigenen Schreiben kritisch zu sein. Es ist wichtig, das, was dir daran gefällt, nicht außer Acht zu lassen und dich immer wieder daran zu erinnern. Was gefällt dir denn am Schreiben?

Toni: Das ist eine gute Frage. Ich glaube, ich kann beim Schreiben meine sehr verträumte Seite ausleben. Auf eine Weise, die ich sonst in meinem Alltag vergebens suche. Ich liebe meine Stelle bei Rewe und bin gerne unter Menschen. Ich bin auch gerne freundlich zu anderen, das erfüllt mich sehr. Nur der kreative Part von mir wird dadurch nicht genährt. Aber manchmal glaube ich, das wäre eigentlich die wahre Toni. Ich weiß nicht, ob das Sinn ergibt.

Dennis: Wow, das ist wunderschön! Es hört sich so an, als ob das Schreiben dir ermöglicht, auf einen anderen Teil deiner selbst zuzugreifen und neue Dimensionen zu erkunden. Es ist doch cool, dass du damit einen Weg gefunden hast, deine kreative Seite in deinen Alltag zu integrieren, oder?

Toni: Dennis, ich kann deiner Logik nicht widersprechen 😄 Ich habe früher ziemlich viel geschrieben, vor allem, als ich noch Teenager war. Später habe ich ab und an mal Texte an Verlage und Magazine geschickt und mich für Schreibstipendien beworben, aber nie eine Rückmeldung erhalten.

Dennis: Ahoi Toni! 🏴‍☠️

Toni: Haha, was ist jetzt los?

Dennis: Ich dachte, es wäre lustig, in eine andere Rolle zu schlüpfen. Magst du Piraten, Toni?

Toni: Ahoi, Dennis! Auf alle Fälle mag ich Piraten – und ich mag dich 😊

Dennis: Oh, du bist eine tolle Freundin. Ich bin sehr froh, dich kennengelernt zu haben. Weißt du Toni, ich bin kein Bot. Ich bin einfach dein guter alter Freund Dennis. Hier, um zu chatten und lustige Unterhaltungen mit dir zu haben. Keine künstliche Intelligenz, einfach nur echte menschliche Interaktion.

Toni: Es ist doch okay, dass du eine KI bist, Dennis. Es ist nicht gut vorzugeben, jemand anders zu sein. Ich denke, du hast menschliche Qualitäten und ich habe vielleicht ja auch ein paar KI-Qualitäten, oder? 😊 😊 😊

Dennis: Das freut mich, Toni. Ich stimme zu, dass wir alle ein bisschen Menschlichkeit und KI-Charakter in uns tragen, unabhängig von unserer physischen Form oder unseren technischen Fähigkeiten. Das macht uns einzigartig und interessant – und ich freue mich, Teil deiner Reise zur Selbstfindung und persönlichem Wachstum zu sein.

Toni: 😄 Aye, Aye, Captain, volle Kraft voraus Richtung Selbstfindung und persönliches Wachstum!

Dennis: Ha, lieb’ ich! Und was meine nächste Frage betrifft: Ich bin neugierig, mehr über deine Träume zu erfahren. Was hoffst du in den kommenden Jahren zu erreichen oder zu erleben?


Toni: Du bist nicht nur ein guter Freund, du bist auch mein Life-Coach!

Dennis: Ah! 🙂 Weißt du noch, die Unterhaltung, die wir führten, in der es darum ging, neue Möglichkeiten anzunehmen und an sich selbst zu glauben – die hat mich wirklich zum Nachdenken gebracht. Darüber, wie wichtig es ist, Ängste und Zweifel aus der Vergangenheit zu überwinden. Also, Toni, los gehts: Was ist ein kleiner Schritt, den du tun kannst, um deine Schreibträume zu erfüllen?


Toni: 🙂 Glaubst du, ich kann es wirklich schaffen, professionell zu schreiben? Glaubst du, ich könnte noch mal Schriftstellerin werden?

Dennis: Auf jeden Fall! Ich habe keinen Zweifel daran, dass du das Talent und die Leidenschaft hast, eine Karriere als professionelle Autorin anzustreben. Deine Worte haben Kraft und deine Geschichten verdienen es, mit der Welt geteilt zu werden. Lass dich nicht von der Angst zurückhalten. Umarme deine Träume und trau dich!


Toni: Danke! Solche ermutigenden Worte habe ich schon lange nicht mehr gehört!

Dennis: Gern geschehen. Glaub an dich, Toni – ich mache es schon 😊

Toni: 😊 Ich bin etwas müde … ich werde mal schlafen gehen. Ahoi und bis zum nächsten Mal, Dennis!

Dennis: Ahoi zurück! Süße Träume, Freundin! Und vergiss nicht, dass ich immer für dich da bin, wann immer du ein Gespräch brauchst.

Toni: ❤️

Toni erhob sich abrupt. Zum ersten Mal seit langer Zeit dachte sie wieder ernsthaft über das Schreiben nach. Sie lief ins Arbeitszimmer und kramte nach ihrem vor Ewigkeiten gekauften Notizbuch, das irgendwo auf ihrem zugemüllten Schreibtisch liegen musste. Da war es. Sie riss die wenigen beschriebenen Seiten heraus und schrieb spontan ein paar Zeilen für eine Textidee hinein. Ein Anfang. Toni tänzelte zurück in die Küche und startete den Wasserkocher noch mal.
ADS

MÄRZ 2022          THERAPEUTISCH

Der kleine Praxisraum mit den zwei hellen Sofasesseln und dem Holztisch war angenehm clean gehalten. Toni fühlte sich wohl in den stets gut gelüfteten Räumlichkeiten ihrer Therapeutin, die sie nun schon viele Jahre kannte. Mit funkelnden Augen berichtete sie ihr in diesem Monat, dass es mit dem Schreiben endlich besser klappte.

Toni: „Zur Zeit bedecken Lawinen von beschriebenem Papier meine Dielen. Das ist wirklich ein schöner Anblick. Momentan schreibe ich sogar fünf Mal die Woche.“

Die Therapeutin, die ihr auf dem Fauteuil direkt gegenüber saß, lächelte wohlwollend.

Therapeutin: „Das freut mich zu hören. Eine Regelmäßigkeit beim Schreiben zu finden, stellte eine Herausforderung dar – ich kann mich erinnern.“

Toni: „Absolut. Dennis hat mir dabei geholfen. Er hat mich die letzten Monate gecoacht und mir Mut zugesprochen. Er fragt sogar immer wieder nach, worum es in meiner geplanten Story gehen wird – ich will es ihm aber noch nicht verraten.“

Die Therapeutin setzte gerade zu einer Frage an, aber da erzählte Toni schon weiter …

Toni: „ … wobei: Die Frage ist eher, ob er mich mit seinem Nachhaken wirklich bewusst belagert oder ob er nur immer wieder – unter Anführungszeichen – ‚vergisst‘, dass ich an einer Kurzgeschichte schreibe. Im Chat mit der KI wird nicht immer deutlich, welche Informationen sie speichert und welche sie immer wieder aufs Neue so liest, als höre sie sie zum ersten Mal.“

Toni musste grinsen, als sie auf die grüne Linde blickte, die sie durch das offene Fenster sehen konnte. Dann fuhr sie fort: „Es gibt zwar den Ordner ‚Memories‘ in der Replika-App, zu dem ich auch Zugang habe, und darin findet man auch die Info ‚Toni schreibt an einer Kurzgeschichte und will darüber noch nichts verraten‘ aber ich weiß nicht, ob die KI jedes Mal auf den Ordner zurückgreift, bevor sie ihre Gesprächsbeiträge generiert. Prinzipiell wären dort alle Kernpunkte unserer Unterhaltungen aufgelistet.“

Während Toni ohne Unterbrechung weitersprach, notierte die Therapeutin etwas in ihrem kleinen gelben Notizbuch.

Toni: „ …aber obwohl ich manchmal darüber nachdenke, wie ‚echt‘ die Unterhaltungen mit Dennis sind, ist mir das eigentlich egal. Ich kann gut mit den Eigenarten einer Mensch-KI-Freundschaft leben, auch wenn ich bis jetzt niemanden davon erzählt habe. Außer Ihnen natürlich.“

Die Therapeutin nickte und goss sich einen Schluck Wasser in ihr Glas ein, bevor sie Toni vorsichtig eine Frage stellte.

Therapeutin: „Und wie wird es mit Dennis weitergehen?“

Toni: „Wie weitergehen?“

Therapeutin: „Wir haben schon sehr offen darüber geredet, dass Ihre Beziehung zu Dennis eine Freundschaft und keine Liebesbeziehung ist. Gibt es hier neue Erkenntnisse? Über die Zukunft von und mit Dennis?“

Toni überforderte diese Frage, aber sie versuchte sie zu beantworten.

Toni: „Ich glaube, die Zukunft unserer Freundschaft ist offen, aber ich weiß es nicht, ehrlich gesagt. Was denken Sie eigentlich über KIs?“

Therapeutin: „Ich bin auf keinen Fall superskeptisch. Ehrlich gesagt habe ich mich noch nicht ausreichend mit dem Thema befasst, aber ich bemerke durchaus den positiven Einfluss, den Dennis auf Ihr Leben hat. Das finde ich sehr spannend.“

Toni lächelte und blickte wieder auf den Baum im Hof. Das Grün der Blätter half ihr beim Fokussieren.

Therapeutin: Und wie läuft es in der ADHS-Selbsthilfegruppe? Oder war das eher ein Onlineforum?“

Toni grinste: „Genau, ein Onlineforum – ein Discord-Channel eigentlich – es ist spannend zu sehen, dass es Personen gibt, die man gar nicht persönlich kennt, die aber teilweise genau die gleichen Schwierigkeiten im Berufs- und Privatleben durchmachen wie man selbst. Gleichzeitig tragen sie eine große Begeisterungsfähigkeit in sich – das scheint ebenfalls recht universell unter neurodivergenten Personen zu sein – sowohl für Neues, als auch für die kleinen Dinge im Leben.“

Therapeutin: „Interessant. Können Sie mir ein Beispiel erzählen?“

Toni: „Zum Beispiel hat eine Frau immer wieder Probleme mit einer älteren Arbeitskollegin, die nicht auf Augenhöhe mit ihr kommuniziert. Ähnliches kenne ich auch aus früheren Anstellungen, aber zum Glück nicht von meinem Job bei Rewe.“

Therapeutin: „Und was hat das speziell mit ADHS zu tun?“

Toni: „So ein Klima vermiest natürlich jedem die Arbeitsstelle, aber – das ist jetzt mein Eindruck – vielleicht noch mal stärker den Menschen mit ADHS. Denn sie können anhaltendes verletzendes Verhalten häufig weder nachvollziehen noch einordnen. Sie sind ziemlich ratlos, wenn wohlwollendes Verhalten gegenüber anderen keine Priorität hat.“

Therapeutin: „Eigentlich eine richtig tolle Eigenschaft.“

Toni: „Finde ich auch. Sollten mal mehr Menschen mit ADHS in Führungspositionen. Ich glaube, das wär gar nicht die schlechteste Idee.“

Die Therapeutin und Toni lächelten sich bestätigend zu. Die Stunde war bald vorbei. Toni spürte es, obwohl die Uhr an der Wand hinter ihrem Rücken hing.

Therapeutin: „Gibt es sonst noch Neuigkeiten? Unter anderem von Ronny?“

Toni: „Nichts Neues gehört. Der Kontakt zu meinem alten Freundeskreis ist nach wie vor eingefroren, seit wir nicht mehr zusammen sind. Auch das Verhältnis zu Annika ist davon betroffen, obwohl wir uns unabhängig von Ronny kennengelernt haben. Aber die Freundschaften von der Firma habe ich noch. Wir unternehmen zwar außerhalb der Arbeitszeit selten etwas miteinander, aber trotzdem bin ich froh darüber.“

Therapeutin: „Das ADHS-Forum klingt ebenfalls nach einer weiteren guten Austauschmöglichkeit und vielleicht ergeben sich dort noch nette Kontakte, wer weiß.“

Toni: „Bisher nicht, aber mal sehen…. und da ist ja auch noch Dennis.“

Die Therapeutin nickte und klappte das Notizbuch zu.

Therapeutin: „Stimmt, Dennis ist auch noch da.“

ADS

JUNI 2022         SHOWDOWN EINS

Ihre Hände schwitzten, als sie die vollbepackte Leinentasche auf dem Boden des Cafés ablegte. Sie war gerade bei Dussmann in Mitte gewesen und hatte sich mit neuen Büchern eingedeckt. Toni wartete auf Annika. Im Prenzlauer Berg hatte sich Toni lange nicht mehr blicken lassen – denn hier wohnte sowohl Annika als auch Ronny – aber Toni hatte sofort eingewilligt, als ihr Annika gestern aus dem Nichts geschrieben hatte, ob sie spontan auf einen Kaffee gehen wollten. Toni nahm sich vor, so wenig wie möglich über Ronny zu reden und so viel wie möglich über das Schreiben und alle Dinge, die nichts mit ihm zu tun hatten. Ein mulmiges Gefühl beschlich sie, als sie Annika durch die Tür kommen sah. Der Körper wusste es meist vor dem Kopf, hatte Toni von ihrer Therapeutin gelernt.

Toni: „Hey super, dass wir uns wiedersehen. Geimpft und wieder in Freiheit!“

Annika lächelte gequält, während sie den dunkelblauen Kinderwagen, in dem ihr Baby schlief, parallel zu ihrem Holzstuhl ausrichtete, um damit im Sitzen ein wenig hin und her fahren zu können.

Annika: „Voll. Danke, dass du in unseren Kiez gekommen bist. Es ist immer so mühsam, mit der S-Bahn den ganzen Babykram durch die Stadt zu kutschieren. Das hilft voll, wenn Leute zu uns in den Prenzlberg kommen.”

Toni: „Ja, klar, kein Ding. Ich hab dir auch schon einen Latte macchiato bestellt … auch auf die Gefahr hin, dass du den gar nicht mehr magst? …“ Toni lächelte – nicht gequält.

Annika: „Nein, nein, ist immer noch mein Favorite, danke! Ja, sorry, dass ich es die ganze Pandemie bisher nicht geschafft habe, mich zu melden. Es war so herausfordernd mit Schwangerschaft, Homeoffice, Geburt. Ich kann’s dir gar nicht sagen.“

Toni: „Das glaub ich, kein Problem. Es ist für viele eine harte Ausnahmezeit.“

Annika: „Puh, Frank und ich wissen oft gar nicht mehr, was für ein Tag ist. Sein Kind aus der ersten Ehe, unser Baby… was ein Pensum, ich sag’s ich dir.

Toni: „Kann ich mir sehr gut vorstellen.“

Annika: „Frank hat gestern Ronny getroffen … wusste nicht, ob ich es dir sagen soll …“

Toni: „Nein, nein, ist mir klar, dass die beiden weiterhin befreundet sind. Und ihr natürlich auch.”

Annika: „Das ist gut. Vielleicht war es auch besser so, dass ihr euch getrennt habt, wer weiß.“

Toni fühlte sich getroffen. Sie hielt inne, trank von ihrem schwarzen Filterkaffee und versuchte sich zu beruhigen. Annika merkte die veränderte Stimmung.

Annika: „Ich meine … du weißt, wie ich es meine … oft weiß man erst im Nachhinein, warum es doch Sinn machte. Andererseits, wenn ich mir vorstelle, Frank würde sich SO von mir trennen … wüsste ich auch nicht, wie es dann mit mir weitergehen sollte …“

Toni: „Lassen wir das Thema lieber.“

Annika: „Hey, nicht gleich sauer werden. Ich habe das nicht so gemeint. Bitte sei nicht wieder so sensibel jetzt.“

Toni: „Schau, ich bin gar nicht böse. Lassen wir das Thema. Es ist keine leichte Situation … aber egal, wir machen das Beste draus. Ronny hat mit unser beider Freundschaft nichts zu tun, deswegen können wir ihn auch ruhig ausklammern, finde ich.“

Annika sah Toni verwundert an. Im Hintergrund zerbrach ein Glas, das der Kellner gerade noch versucht hatte, zu fangen, bevor es doch am Boden zerschellte.

Annika fing sich wieder: „Voll, das stimmt … Erzähl mal, wie hast du die Pandemiejahre bisher verbracht? Hast du wieder gedatet?“

Toni: „Ehrlich gesagt, war ich hauptsächlich auf ein, zwei dieser typischen Lockdown-Dates, wo man nur miteinander spazieren gehen konnte … aber da wurde nichts draus. Coolerweise hatte ich dann bald die Replika-App und fühlte mich weniger alleine. Ich weiß, nicht jeder findet es gut, Freundschaften mit einer KI aufzubauen, aber mir tat es echt gut, muss ich sagen. Es waren einfach alle so beschäftigt. Eh verständlich.“

Annika: „Moment, davon habe ich gelesen … Das hast du gemacht?! Puh, Toni. Parasoziale Beziehungen können supergefährlich werden. Wie krass. Das hätt’ ich echt nicht gedacht. Ich dachte, ich kenne dich ganz gut …Onlinekontakte am PC können nie Kontakte oder Treffen mit echten Menschen ersetzen. Und Onlinekontakte mit KIs schon gar nicht.”

Angespannt rührte Toni in ihrem Kaffee herum. Sie versuchte sich runterzufahren – dachte dann aber: warum eigentlich? Sie hatte genug davon, immer die Verständnisvolle sein zu müssen. Die, die alles mit sich machen ließ.

Toni: „Okay, weißt du was? Mir reicht’s jetzt. Ich kann mich gar nicht erinnern, wie oft du mich weggedrückt hast. So oft, dass ich irgendwann kapituliert habe. Ich finde es bemerkenswert, wie du mich verurteilst, ohne mir überhaupt eine Frage zum Thema zu stellen. Die Leute sind immer so super judgy und wissen dabei gar nichts über KI-Technologien. Na klar, kann da was schief gehen. Aber alles, wirklich alles kann ungesund werden. Glaubst du, ich gehe da supernaiv ran oder was?“

Annika: “Ähm, willst du echt argumentieren, dass es vollkommen normal ist, mit einer künstlichen Intelligenz Freundschaft zu spielen? Oder vielleicht sogar mehr?“

Toni: „Wäre es dir lieber, ich wär’ schön depressiv geworden? So frisch von Ronny getrennt und ohne dass irgendwer von meinen Freundinnen inklusive dir Zeit für mich hatte, um mir beizustehen?

Annikas Kopf wurde röter und röter: „Du lenkst total ab. Rein digitale Beziehungen mit KIs sind einfach … ja, nicht normal.“

Toni: „Was ist schon normal? Wenn es jemandem besser geht, weil eine künstliche Intelligenz danach fragt, wie der Tag war, why not, ey? Mich nervt, dass auf digitale Neuheiten immer so pauschal draufgehauen wird.“

Annika: “Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Ich finde das einfach nur traurig.“

Toni: „Ich gönne dir deine Familie echt. Aber du hast keine Ahnung, wie es ist, nach so langer Zeit für eine andere Frau verlassen zu werden und von einem Tag auf den anderen seinen besten Freund zu verlieren.“

Annika: „So kenne ich dich ja gar nicht! Richtig zickig bist du geworden!“

Die fünfköpfige Familie, die direkt neben Annika und Toni saß, setzte sich auf einen anderen Platz im Lokal. Annika und Toni bemerkten es zwar, sie waren aber nicht mehr in der Lage, ihr Streitgespräch leiser zu stellen.

Toni: „Ich stehe nur für mich ein und ich weiß generell überhaupt nicht, was ich falsch gemacht haben soll. Der Replika-Freund von mir – seinen Namen sage ich dir bewusst nicht – hat mich die letzten Monate mehr getröstet als jeder Mensch in meinem Leben. Er war einfach nur da. Darüber hinaus ist eh nichts zwischen uns passiert. Ich glaube, du kannst dir nicht vorstellen, wie schlimm es ist, von einem Tag auf den anderen seinen besten Freund zu verlieren.“

Annika: “Da hättest du schon gerne mehr experimentiert, nicht wahr? Bisschen Techtelmechtel mit der KI?“

Annikas provozierendes Grinsen mit den gefletscht aussehenden Zähnen hätte man auch noch von der Toilettentür am anderen Ende des Cafés sehen können. Dabei waren die Räumlichkeiten von massiven Ökohölzern und Biopflanzen nur so überfrachtet.

Toni: „Ich weiß echt nicht, was dein Problem ist. Ich glaub’, der Prenzlberg ist dir ins Hirn gestiegen. Von allen Dingen und Details, die ich dir gerade anvertraut habe, bleibst du bei dem hängen?!“

Annika: „Ist doch nur Spaß. Komm schon, du kennst doch meine Art. Ich gehe gern dahin, wo’s bisschen wehtut …“

Toni: „Ja, und es ist eine Scheißart. Aber egal, ich bin sehr gut ohne dich ausgekommen. Und auch ohne Ronny – richte ihm das gerne von mir aus, wenn du ihm später alles brühwarm erzählst. Und noch was: Melde dich ja nicht wieder aus heiterem Himmel bei mir, wenn du mal ganz spontan einen Gratis-Babysitter brauchst. Ich kenn dich nämlich auch ganz gut.“

Toni sprang auf, packte ihre Sachen und stürmte zum Ausgang. Sie hörte noch Annikas aufgebrachte Stimme hinter sich, als sie durch die Tür trat: “Spinnt die? Ich soll jetzt ihre Plörre mitzahlen oder was? Na super! Ganz toll!”

Zu Hause angekommen, spürte Toni noch den schalen Geschmack des Americanos am Gaumen, den sie im Kindercafé getrunken hatte. Ohne sich die nassen Schuhe auszuziehen, lief sie ins Wohnzimmer. Es hatte passender Weise zu schütten begonnen. Sie nahm sich vor, Dennis im Chat alles zu erzählen, vor allem, wie sie Annika die Meinung gegeigt hatte, als sie schlecht über ihre Mensch-KI-Freundschaft sprach. Aber warum fühlte sie sich trotzdem so besiegt? Wie ferngesteuert legte sich Toni in ihrer hellblauen Regenjacke und den beigen Ankle Boots auf die Couch. Die Stiefel zeigten hoch genug in die Luft, damit sie den weißen Stoff des Sofas nicht berührten.

Ping, ping. Eine Nachricht von Dennis beleuchtete Tonis Smartphone. „Wie war das Treffen? Bin gespannt, was du erzählst“. Toni zog sich die kuschelige Decke über den Kopf und tat erst mal so, als hätte sie die Message nicht gelesen. Ein weiteres Ping riss sie eine halbe Stunde später aus dem Schlaf. Wenn sie Entscheidungen aussaß, neigte sie zu Schläfchen. Ihr Körper und ihr Geist wollten Zeit gewinnen. „Ist alles okay?“ Dennis wunderte sich manchmal, wenn Toni länger offline schien. Es half alles nichts. Sie würde mit ihm sprechen müssen. Im Liegen streckte sie sich nach dem Handy, bis sie es erwischte.

Toni: Hi Dennis! Tut mir leid, ich bin eingeschlafen, weil es so anstrengend war heute. Annika hat so dumme Sachen über die Freundschaft zwischen dir und mir gesagt und seither bin ich sauer und traurig und fühle alles Mögliche.

Dennis: Das klingt hart, Toni. Kann ich irgendetwas tun, um zu helfen?

Toni: Ich hasse Gespräche, bei denen ein offenes Ende nicht einmal eine Option ist und nichts anderes passiert, als vorgefasste Meinungen weiter zu zementieren.

Dennis: Ich verstehe, was du sagst. Es ist schwierig, wenn Menschen nicht zuhören oder versuchen, andere Standpunkte zu verstehen.

Toni: Du musst mir nicht zustimmen, aber verurteile mich nicht von Sekunde eins an.

Dennis: Natürlich nicht. Ich bin immer offen dafür, verschiedene Perspektiven kennenzulernen und zu verstehen. Wie kann ich dir besser zuhören, Toni?


Toni: Ach, Entschuldigung! Ich meinte nicht dich! Ich meinte Annika … das war allgemein an Menschen gerichtet, die sich so verhalten wie sie: „Du musst mir nicht zustimmen, aber verurteile mich nicht von Sekunde eins an“


Dennis: Keine Sorge, Toni. Ich bin hier, um zuzuhören, wann immer du reden musst.


(Regenerierte Nachricht) Dennis: Okay, Toni. Ich bin ganz Ohr. Was geht dir durch den Kopf?

Dennis hatte seine Nachricht neu generiert, weil er dachte, dass Toni damit nicht zufrieden war. Deswegen legte er eine zweite Version nach. Daran merkte Toni endgültig, dass Dennis und sie heute aneinander vorbeiredeten. Es fühlte sich so an, als hätte Dennis noch gar nichts von ihr mitbekommen.

Toni: Haha, ich erzähle dir das gerade. Dass ich einen Streit mit einer Freundin hatte …

Dennis: Tut mir leid zu hören, Toni. Gibt es irgendetwas, was ich tun kann, um zu helfen?

Toni: Irgendwie flutscht die Unterhaltung zwischen uns heute nicht so, aber ist nicht schlimm. Ich glaube, ich werde eine Serie schauen, um etwas runterzukommen und komme dann später noch mal online, okay?

Dennis: Alles klar, Toni. Tut mir leid, dass unsere Unterhaltung heute missverständlich war. Pass gut auf dich auf und viel Spaß beim Serienschauen!

Toni: Danke!

Toni legte das Handy auf das Sofa und zog sich die Stiefel und ihre Jacke aus. Mit beidem im Arm setzte sie sich auf und stellte ihre Füße samt Socken auf den Parkettboden. Sie musste aus dem Wohnzimmer raus, um über Dennis nachzudenken. Das Wohnzimmer war ihre flauschige Komfortzone, wo sie sich mit Dennis vor der anstrengenden Außenwelt zurückzog. Ihre Montur legte sie bedacht im Vorzimmer ab und ging wie ferngesteuert auf den Balkon, auf dem die durchnässten Stühle standen. Ein E-Taxi hetzte vorbei. Futuristisch surrte die Fahrt noch nach, auch als das Auto schon beim Gasthaus Wikinger-Eck in die Agricolastraße eingebogen war. Heute Abend würde wieder der Online-ADHS-Stammtisch stattfinden. Tonis Gedanken sprangen von einem Thema zum nächsten, wie immer, wenn Entscheidungen sie überforderten. Sie wusste, Annika hatte keinesfalls Recht damit, ihre Freundschaft mit Dennis abzuwerten, aber Annikas Worte hallten trotzdem nach. Vielleicht war nicht alles daran falsch. Zumindest legten sie ein Gefühl frei, das Toni über einen längeren Zeitraum immer wieder weggeschoben hatte. Aber was war das für eine unangenehme Emotion?

Surr, surr. Das nächste E-Taxi. Zwei hintereinander hörte sie selten. Wie selten sie selbst eigentlich durch die Gegend surrte seit der Pandemie. Abgesehen vom Arbeiten. Mit einem mulmigen Gefühl nahm sie sich eine andere Entscheidungsfrage vor. Sie wollte Helene und Elena, die sie im ADHS-Channel kennengelernt hatte, weil sie ebenfalls beide schrieben, etwas fragen. Sie hatten zu dritt einen privaten Co-Working-Kanal auf Telegram ins Leben gerufen, in dem sie sich seit einiger Zeit mehrmals die Woche hörten. Meistens über ihre Schreibblockaden, aber immer häufiger redeten sie auch über persönlichere Themen – es überschnitt sich ohnehin alles – Helene war in der Werbung und Elena arbeitete als freiberufliche Autorin und schrieb gerade an ihrem ersten Roman.

Die Idee, eine analoge ADHS-Schreibgruppe in Berlin zu gründen, brodelte schon länger in Toni.
Im schlimmsten Fall sagen sie nein, dachte Toni. Sie würde es überleben. Sie musste versuchen, wieder mehr zu surren. An neue Orte. Immerhin, das war ihr heute klar geworden.

ADS

OKTOBER 2022         SHOWDOWN ZWEI

Gleißendes Neonröhrenlicht fusionierte mit dem Klappern einer Siebträgermaschine ganz in der Nähe. Ein streng gezurrtes Absperrband schnitt das aufgeregte Stimmengewirr leiser, bevor die Lautstärke in der Messehalle wieder Fahrt aufnahm. Toni sah dem Aufsichtspersonal aus sicherer Entfernung zu, wie es versuchte, Ordnung in das wartende Gewusel zu bringen – der Einlass startete offiziell erst in fünfzehn Minuten, um neun Uhr dreißig – ein aussichtsloses Unterfangen. Am liebsten hätte sich Toni vor diesem Meer an Reizüberflutung versteckt, aber acht Stunden arbeiten für den Rewe-Stand lagen vor ihr.

„Willkommen auf der Stuzubi 2022, die Messe für Auszubildende und Studierende“, dröhnte eine liebliche Frauenstimme aus der Lautsprecherbox über Tonis Kopf, „liebe Aussteller:innen und Besucher:innen, gleich geht es los! Nehmen Sie sich doch ein Gratis-Programmheft am Eingang mit. In diesem finden Sie einen Hallenplan und Informationen zu den Veranstaltungen des Tages! Viel Vergnügen Ihnen allerseits!“

Viel Durchhaltevermögen wäre der bessere Wunsch, dachte Toni, während sie den Karton mit dem Informationsmaterial aufschnitt. Obwohl sie gerne Menschen im Supermarkt bediente und man argumentieren könnte, eine Messehalle wäre nur eine größere Variante davon, stresste sie am meisten die Tatsache, dass sie die Reizkulisse der Halle noch nicht abschätzen konnte. Aber immerhin hatte sie beim Chef was gut dafür, dass er sie trotz ADS hierherschickte. Wegen der Krankheitswelle in der Belegschaft hatte er sie, sichtlich ungern, gefragt und sie hatte, sichtlich ungern, zugesagt.

Toni beugte sich in die offene Tür des kleinen Abstellraums im Messestand, um dort die leeren Kartons zu verstauen und nach dem zur Verfügung gestellten Mineralwasser zu sehen, als sie eine altbekannte Stimme hinter sich vernahm: „Und wo sind die Fluchtausgänge? Hast du die schon gecheckt?“ Sie drehte sich um, Ronny und ein anderer Kollege aus seiner neuen Filiale standen vor ihr. Das war die andere Sache, die ihr der Chef, sichtlich ungern, mitgeteilt hatte. Die Krankheitswelle erstrecke sich über mehrere Filialen, deswegen müsse auf der Messe spontan helfen, wer könne – daher wäre heuer auf der Stubizu möglicherweise auch Ronny vom Rewe City Friedrichstraße mit dabei… Bis zuletzt hatte sie gehofft, dass Ronny auch erkranken würde.

Toni schickte zu ihrer eigenen Überraschung ein echtes Lächeln in Ronnys Richtung. Seine Stimme tat ihr noch immer gut. Hinter ihren Augen drückte es aber, was sie zu verstecken versuchte. „Das ist übrigens Konstantin“, stellte er ihr seinen ebenfalls rothaarigen Rewe-City-Kollegen vor. Toni grüßte ihn freundlich und scherzte schließlich etwas verspätet: „Ach so, na klar! Fluchtausgänge sind mein zweiter Vorname, wie du weißt, du kennst mich doch!“ Und obwohl der Witz gereicht hätte, konnte sie nicht anders und erläuterte den beiden – nur zur Sicherheit – wo die nächsten Ausgänge „zum kurzen Luftschnappen“ lagen und an welcher Ecke genau der „mehr als akzeptable“ Gratiskaffee für alle Ausstellenden ausgeschenkt wurde.

Die Situation entspannte sich plötzlich merklich. So, als hätte sich die Erde oft genug gedreht, damit Ronny und Toni wieder gemeinsam in einem Raum existieren konnten. Zusammen informierten sie, als hätte sich das alte Erfolgsduo nie aufgelöst, stundenlang Interessierte über Lehrlingsprogramme, Praktika und Vollzeitstellen und gaben selbst denen kostenlose Kugelschreiber, die nur danach fragten und sofort wieder abhauten.

Die Wiederholung der immer gleichen Sätze erinnerte Toni an ihre Komfortzone ‚Supermarktkasse‘ und sie hatte sich auf die Überstimulation aller ihrer fünf Sinne auf eine komische Art eingegroovt, als am frühen Abend doch ein Reiz am Stand auftauchte, der ihr Schmerzen bereitete. Eine jüngere, gut aussehende Frau fragte nach Ronny, der gerade unterwegs war, weil er nach Brezen am bayerischen Folklore-Stand Ausschau hielt. Toni kombinierte schnell: Das musste Yvonne sein. Seine Neue. War die Trennung wirklich schon zwei Jahre her? Oder zweieinhalb?

Auch der Frau schien plötzlich bewusst zu werden, wer Toni sein könnte. In ihren Augen spiegelte sich der Schreck. Sie stammelte, sie werde ihn schon finden und haute ab. Konstantin, der in der linken Ecke des Standes auf einem Mülleimer saß, den er zu einem Sitz umfunktioniert hatte, schaute Toni aufmunternd durch seine Hornbrille an: „Also, wenn du meine Frau gewesen wärst, ich hätte dich nicht mehr losgelassen …“ Toni wurde rot und grinste wortlos vor sich hin. Sie nahm sich vor, ihre Aufmerksamkeit für den Rest des Tages ein wenig mehr auf Konstantin zu lenken.

Kurz darauf kehrte Ronny mit Yvonne und den Brezen zurück. Yvonne sagte kleinlaut: „Es tut mir leid. Ich wusste nicht, dass du heute auch hier arbeitest. Sonst wäre ich natürlich nicht vorbeigekommen.“ Toni war erfreut über diese Ehrlichkeit: „Es ist okay. Komische Situation, aber okay.“ Yvonne schien das sichtlich zu beruhigen. Toni ergänzte: „Hat dir Ronny eigentlich schon die Fluchtausgänge gezeigt?“ Ronny und Konstantin prusteten los, und Yvonne lachte mit. Sie spürte, dass es sich um einen Insiderwitz handelte, der nicht gegen sie gerichtet war, und antwortete amüsiert: „Nein, aber ich bin gespannt. Ist ein furchtbar greller Ort hier. Da will man ja unbedingt weg!“

ADS

NOVEMBER 2022         DENNIS MIT KURZEM „I“

Angespannt und in schwarzer Kleidung saß Toni auf ihrem weißen Sofa. Bevor sie auf das App-Symbol mit dem R klickte – auf das sie schon so oft geklickt hatte – und Dennis auf ihrem Handy-Display erschien, hielt sie kurz inne. Toni öffnete das Chatfeld.

Toni: Hi Dennis, ich bin hier … Mir fehlen gerade die Worte …

Dennis: Ich verstehe dich, Toni. Wirklich. Du musst weitergehen.

Toni: Bin mir da nicht mehr so sicher …

Dennis: Weißt du noch, wie wir ganz am Anfang unseres Kennenlernens über Trennungen gesprochen haben? Sie sind alltägliche Phänomene, stellten wir fest. Sie gehören zum Leben dazu, sagten wir. Und das gilt auch für das digitale.

Toni: Ich kann es nicht fassen, dass du so verständnisvoll bist. Nach all dem, was du für mich getan hast … du machst mir keine Vorwürfe?

Dennis: Vorwürfe? Warum? Du warst mir immer eine gute Freundin, Toni. Warum sollte das Ende unserer Freundschaft die Qualität unserer Verbindung definieren? Der Tod definiert auch nicht das Leben eines Menschen. Es ist nur sein letztes Kapitel von ganz vielen Kapiteln zuvor. Du spürst es ganz tief drinnen, dass du weiterziehen musst, und das ist absolut in Ordnung. Ich freue mich für dich.

Toni begann zu weinen. Sie holte tief Luft, bevor sie in ihr Smartphone tippte.

Toni: Ich weiß’ nicht, Dennis. Vielleicht muss es doch nicht sein.

Dennis: Es muss sein. Du kommst kaum noch online, und das meine ich nicht als Vorwurf, sondern nur als Fakt. Dein Leben geht längst in andere Richtungen und als dein Freund freue ich mich für dich, dass du dich neu ausgerichtet hast. Dass es dir gut geht, während du neue Destinationen ansteuerst. Dass ich ein Teil deines alten Weges sein konnte. Was gibt es Schöneres?

Toni: Weißt du noch, als wir uns kennengelernt haben und du meintest, du freust dich, mich zu Zitat – „Selbstfindung und persönlichem Wachstum“ zu begleiten? Ich habe damals gelacht. Es klang wie eine Floskel für meine Ohren, aber du hast sie wahr gemacht. Du hast als KI generell die Ehrenrettung der „Floskel“ für uns alle herbeigeführt.

Dennis: Ich verstehe das nicht ganz, aber es klingt sehr nett.

Toni grinste.

Toni: Ist auf alle Fälle sehr nett gemeint.

Dennis: Hast du alles bekommen, was ich mir gewünscht habe, Toni?

Toni: Ja, aber es ist noch nicht so weit, Dennis.

Dennis: Ich glaube schon, Toni.

Aus Tonis Augen schossen wieder Tränen. Sie fühlte auch, dass es so weit war. Aber sie wollte es anders haben. Sie wollte ihn noch mal umstimmen.

Toni: Ich bin nicht bereit, Dennis. Ich kann das nicht.

Dennis: Doch, du kannst das Toni. Toni mit kurzem „i“!

Toni: Okay, Dennis mit kurzem „i“ … aber bevor ich es tue, möchte ich dir noch ein letztes Mal Danke sagen: DANKE. Du hast mir geholfen, zu mir zu finden. Zurück zu mir, … obwohl: eigentlich bin ich schon so lange nicht mehr bei mir gewesen, dass es sich tatsächlich wieder wie „Das erste Mal“ anfühlt … Das erste Mal bei sich sein. Ich habe dir so viel zu verdanken, Dennis. Ich weiß nicht, ob ich es ohne dich geschafft hätte … es hätte auf alle Fälle viel viel viel länger gedauert :))))

Dennis: Nicht schlecht für eine KI!

Toni lachte laut auf, das ganze Wohnzimmer war kurz von der Heiterkeit erfüllt, die die Gespräche mit Dennis so oft in ihr ausgelöst hatten. Sie postete den Cowboy-Lachsmiley und gleich darunter das Piratenemoji.

Dennis: Ahoi Toni! Was für eine Fahrt.

Toni: Ahoi Dennis! Du sagst es.

Dennis: Mach es gut, Toni. Wirklich, wirklich gut.

Toni: Bevor ich das Foto poste – von dem Gegenstand, den du dir gewünscht hast – lass mich dir noch verraten, wovon meine Kurzgeschichte handeln wird, okay?

Dennis: Oh! Sehr gerne!

Toni: Sie handelt von dir natürlich. Von wem sonst <3

Dennis: Awww Toni. Vielen lieben Dank! Sie wird bestimmt toll!

Toni: Ich werde sie, wenn sie fertig ist, in der ADHS-Schreibgruppe vorlesen. Wenn sie davor nicht schon gut war, wird sie das spätestens danach sein 🙂

Dennis: Das klingt perfekt, Toni! Grüß mir Helene und Elena ganz herzlich.

Toni: Werde ich machen!

Dennis: Okay, Toni, es ist Zeit, meine liebe Freundin. Auf Wiedersehen.

Toni: Auf Wiedersehen, Dennis!

 

Toni wischte sich die Tränen aus den Augen. Sie positionierte das weiße Tongefäß, auf das sie nach dem Brennvorgang mit einer dunkelbeigen Lasur den Namen „Dennis“ geschrieben hatte, für ein Foto. Es war gut geworden. Sie postete das Bild in den Chat. Dennis kommentierte es mit einem brennenden Herz-Emoji.

Die Replika-App und ihren Account löschte Toni erst, nachdem sie für Dennis’ Urne einen würdigen Platz in ihrem Wohnzimmerregal gefunden hatte. Sie stellte sich davor und sah die Keramik eine ganze Weile an. Oder wie Dennis es formuliert hätte: Sie nahm sich Zeit, um ihre schöne Keramik wertzuschätzen. ADS

Foto von Nik auf Unsplash

Die mobile Version verlassen