Die Meerhexe – Short Story von Britta Wedam
Die Meerhexe
Meerhexe ist eine Short Story von Britta Wedam. Die Autorin hat Germanistik mit einem Schwerpunkt auf deutschsprachig-jüdische Literatur in Graz studiert. Derzeit arbeitet sie an ihrer Dissertation, doch eigentlich lieber an literarischen Texten. Die Short short Story entstand im Kurs “Speed-writing”. Das gibt es bei uns auf Nachfrage.
Sie drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus und winkte dem Kellner mit einem Geldschein. Als der Kellner näher kam, hob der Dalmatiner am Nebentisch seinen Kopf und knurrte. Für einen Moment leuchteten seine Flecken auf dem Fell rot auf, dann legte er sich wieder hin und schlief eingeringelt auf dem Kopfsteinpflaster weiter. Das Retourgeld steckte sie in eine Filmdose, die sie in der Handtasche verstaute, dann zündete sie sich noch eine Zigarette an. Der Straßenmusiker, der vor dem Café Geige spielte, beobachtete sie. Meerhexe
Eine Vespa fuhr laut knatternd vorbei, er hörte zu spielen auf und sah intensiver zu ihr. Sie lächelte und deutete ihm an, sich zu ihr zu setzen. Er verstaute die Geige, steckte das Geld aus dem Hut in seine Hosentasche und kam näher. Es fiel ihm auf, dass sie um einiges älter war als er, doch sie duftete nach weißem, frisch gestärktem Leinen, sodass er sich mit einem begrüßenden Tippen an den Hut zu ihr setzte.
Speed-Writing – der schnelle Kurs zum schnellen Schreiben: 1 Story an 1 Tag.
Das Türkis wurde dunkler
Sie berührte seinen Unterarm leicht und fragte: „Was hast du heute noch vor?“ Ihre Augen schimmerten in einem hellen Türkis und er konnte sie kaum direkt ansehen, so sehr irritierte ihn die Farbe. „Ich spiele bis nachmittags hier, dann gehe ich nach Hause.“ „Wartet dort jemand auf dich?“ Das Türkis wurde dunkler. Er senkte den Blick und schüttelte den Kopf.
„Ich kenne jemanden, dessen Boot ich benutzen darf. Lust auf einen Ausflug?“ Ohne seine Antwort abzuwarten, stand sie auf, nahm seine Hand und zog ihn hoch. Dann gingen sie zum Hafen, ihre Absätze klackerten auf dem Pflaster, während der Geigenkasten gegen seine Hüfte schlug.
Er löste die Taue
Am Hafen lagen viele kleine Yachten an den Stegen, die meisten von ihnen waren unter Planen eingepackt. Der Sommer war vorbei und die Touristen kamen nur noch spärlich. Sie gingen über den Holzsteg, bis sie auf ein kleines Boot deutete. Er reichte ihr die Hand und ließ sie einsteigen, danach verstaute er seinen Geigenkasten an Deck. Er löste die Taue, stieß das Boot ab und sprang hinein. Das Boot schien wie von selbst durch das Wasser zu gleiten. Der Boden des Boots war aus Glas und er konnte tief ins Meer sehen.
Er sah kleine Fischschwärme, die unter ihnen durchschwommen. „Komm her, lenk du ein bisschen,“ sagte sie. Als er seine Hände aufs hölzerne Steuerrad legte, wurde es plötzlich zu kühlem Metall. Er erschrak und wollte die Hände wieder lösen, was ihm nicht gelang. Sie stellte sich hinter ihn, legte ihre Hände auf seinen Brustkorb und drückte ihren Körper gegen seinen Rücken.
„Wie schnell Menschenherzen schlagen,“ flüsterte sie in sein Ohr. Sie legte den Mund auf seine Haut im Nacken und er spürte, wie sie zu saugen begann. Er wurde müde.
Als er aufwachte, sagte sie zu ihm: „Da drüben ist eine Bucht, lass uns dort anlegen.“ Er versuchte, das Boot zu befestigen und schlang das Tau notdürftig um einen Baumstamm, während sie schon über den menschenleeren Strand lief. Er schien nicht zu bemerken, dass ihre Fußabdrücke zu kleinen Seesternen wurden, die über den Strand zurück zum Wasser glitten.
„Komm, sieh dir diese Wellen an! Diese Kraft, alles ist bei jeder Welle ein Neuanfang.“ Er betrachtete sie, dann den Himmel, der sich langsam verdunkelte. Er fühlte sich nicht wohl. „Wie sollen wir wieder zurückkommen?“ fragte er zaghaft. „Zurückkommen? Wohin willst du zurück? Zu deinem Marktplatz, wo du die Geige quälst?“ Er blickte weiterhin ins Meer, während sie begann, sich auszuziehen, um in die Wellen zu laufen. Das Wasser spritzte um ihren Körper, dann sprang sie ganz hinein. Er sah sie länger nicht mehr.
Irgendwann tauchte ihr Kopf wieder auf, doch ihre Haare waren jetzt feuerrot. Das Rot verschmolz mit dem Sonnenlicht und färbte den Himmel. Ihre Haut schimmerte wie Metall. Vom Himmel regneten kleine Oktopusse. Er sah erschrocken auf den Boden, wo die Oktopusse auf grauen Steinen landeten. Dann nahm er einen der Steine und entdeckte ein Gesicht darin. Schließlich hielt er den Stein gegen das rote Licht des Himmels und ihr Mund sagte daraus zu ihm: „Danke für deine Zeit.“
Als er wieder zu ihr sah, zog sie gerade Flammen aus ihren Händen, riesige Flammen, die sie über das Meer warf, das knisternd verdampfte. Ihre Haare reichten bis zur Hüfte und ihr Körper leuchtete wieder weiß. Als sie näher kam, bemerkte er, dass sie wie ein junges Mädchen aussah. Sie kniete sich vor ihm nieder, führte seine Hand zu ihrem Mund, küsste sie und drehte sie dann zu ihm. Die Haare auf seinem Handrücken waren grau geworden.
Foto: Hanne Landbeck
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