Wer erzählt, ist nicht allein

Seit vierzig Jahren arbeitet Urs Faes konsequent an seinem literarischen Werk. Zum siebzigsten Geburtstag bündelt er die Motive seines Schreibens in einem vielstimmigen Buch.

Thomas Ribi
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«Erzählen kann Probleme lösen»: Für Urs Faes ist Schreiben ein Mittel der Selbstvergewisserung. (Bild: Karin Hofer / NZZ)

«Erzählen kann Probleme lösen»: Für Urs Faes ist Schreiben ein Mittel der Selbstvergewisserung. (Bild: Karin Hofer / NZZ)

Über seinen Geburtstag will er eigentlich gar nicht reden. Und den Begleiterscheinungen, die dieser mit sich bringen könnte, weicht er aus. Am Montag, wenn er siebzig wird, ist Urs Faes irgendwo in Deutschland. Nicht allzu weit weg von Zürich, wo er lebt, aber auf Distanz. Das passt zu ihm. Nicht weil er ein Menschenfeind wäre, überhaupt nicht. Aber Urs Faes gehört nicht zu den Schriftstellern, die sich gern inszenieren. «Ich bin keiner für Stellungnahmen», sagt er von sich. Er ist einer, der die Welt aus der Distanz betrachtet. Seit mehr als vierzig Jahren arbeitet er konsequent an seinem literarischen Werk. Zum Siebzigsten hat er ein weiteres Stück hinzugefügt: die Erzählung «Halt auf Verlangen».

Bilanz eines Lebens

Also doch so eine Art Begleiterscheinung zum Geburtstag. Ja, und zwar eine besondere. Ein Buch, das seinem ernsten Inhalt zum Trotz sehr leicht daherkommt, luftig beinahe. Eine Erzählung, die ihren strengen formalen Aufbau hinter einer lockeren, scheinbar absichtslos assoziativen Form verbirgt. Ein abgeklärtes Alterswerk? Vielleicht. Aber kein Opus magnum, das magistral wirkt, sondern ein Buch, das so bescheiden wie eindringlich den Versuch unternimmt, die Bilanz eines Lebens zu ziehen. Oder eher: eine mögliche Bilanz aus einem Leben, das auf die Probe gestellt wird.

«Halt auf Verlangen. Ein Fahrtenbuch» geht auf Notizen zurück, die Faes vor rund vier Jahren begann, während einer Krebstherapie. Nach der Diagnose habe er gespürt, wie er sich selber abhanden komme, sagt er. In der Therapie sei ihm der eigene Körper fremd geworden. Das Ich habe sich verloren, entmündigt von den Abläufen eines perfekt organisierten Spitalbetriebs. Er sei sich selber zum Objekt geworden, in der Obhut von Ärzten und Therapeuten, traktiert von einer Maschine, mit der man dem Karzinom zu Leibe rückte. Das Schreiben wurde für ihn zum Mittel der Selbstvergewisserung. Im Beschreiben dessen, was er sah, habe er die Welt, die ihm zu entgleiten drohte, zu sich geholt. Er erschrieb sich die Wirklichkeit und schuf zugleich die Distanz, die er brauchte, um sich der existenziellen Krise zu stellen.

Unter Verdacht

Ein autobiografisches Buch also, der Bericht einer Krankheit? Ja. Und nein. Nur eine Krankengeschichte zu schreiben, wäre für ihn nicht infrage gekommen, sagt Faes. Eine Geschichte müsse exemplarisch sein, müsse über das individuelle Erleben hinausführen. «Aber wer Geschichten erzählt, steht im Literaturbetrieb unter Verdacht.» Die Kritik werfe ihm oft vor, zu sehr an Geschichten, am Plot interessiert zu sein. Für Faes ein fataler Irrtum. Denn um den Plot gehe es ihm ja eigentlich nicht. Aber Geschichten seien lebenswichtig. Mehr als das: «Erzählen kann Probleme lösen.» Wer erzähle, sei nicht allein. Wer das weitergeben könne, was er erlebt, und wer eine Sprache finden müsse für das, was ihn bewegt, sei dem Leben nicht mehr schutzlos ausgeliefert.

Das sei ihm vor einigen Jahren klar geworden, sagt Faes. Damals sei er als Gesprächstherapeut auf der Onkologieabteilung eines Spitals tätig gewesen. Reden können, erzählen können sei für die Patienten ebenso wichtig wie die medizinische Betreuung. Vor vier Jahren war er nun selber in der Situation, die er als Beobachter so oft erlebt hatte: Er war Patient, mit einer Diagnose, die alles infrage stellt, was dem Alltag eine gewisse Sicherheit gibt. Und er schrieb.

Die dritte Person

Doch von den tagebuchartigen Notizen bis zum Buch, das war ein langer Weg. Die Erzählung rückt das Geschehen in die dritte Person eines namenlosen Protagonisten und verdichtet es auf drei Monate, in denen sich dieser einer Bestrahlung unterziehen muss. Das Ganze verwebt Faes mit Motiven, die ihn seit Jahren begleiten, zu einem vielstimmigen Phantasiestück: mit Erinnerungen an die eigene Jugend, dem Erwachen der erotischen Begierde, dem Abschied vom Elternhaus, der Suche nach der verschwiegenen Geschichte der Familie und Begegnungen mit Frauen, die sein Leben prägten.

Festhalten, was ist, um zu erfahren, wer man ist: Das ist für Urs Faes ein Grundmotiv des Schreibens. Es prägt auch «Halt auf Verlangen». Etwa wenn beschrieben wird, wie sich der Protagonist als Zwölfjähriger erste Tagebuchnotizen macht. In ein blaues Heft, wie es die Mutter verwendet, um im Laden die Schulden der Kunden aufzulisten. Auch dieses Schreiben reagiert auf eine existenzielle Krise: auf das Verschwinden des Vaters, der auf einmal nicht mehr da ist und einen Sommer lang wegbleibt. In einer Situation, in der alles unsicher wird, sind die Notizen das Einzige, das dem Schreiber ganz allein gehört. Und sie sind das Einzige, das ihn mit der Welt verbindet. Indem er schreibt, ordnet er seine Welt und gibt ihr einen Sinn.

Die Wirklichkeit des Alltags

Jahrzehnte später rettet er sich wieder ins Schreiben. Um sich an etwas festzuhalten, und sei es nur am Stift, mit dem er aufschreibt, was er sieht, wenn er mit dem 11er-Tram durch Zürich fährt. Von seiner Wohnung in die Klinik und zurück. Tramfahrten, Therapiesitzungen, Begegnungen mit Ärzten, einer Geliebten oder dem unbekannten Leser, der mitten in der Stadt ein Buch liest: Sie holen ihn in die Wirklichkeit des Alltags.

Sie führen ihn aber auch zurück in die Kindheit. Zu den Bahnfahrten mit dem Vater im Führerstand, Momenten einer kostbaren, aber fragilen Nähe, die nie zur ersehnten Vertrautheit wird. An den Familientisch, wo alle schweigend ihr Abendbrot essen, um sich nachher in ihre eigene Welt zurückzuziehen. Oder ins Dorfkino «Odeon», den Schauplatz der ersten erotischen Annäherung an die Jugendliebe Mile. Im Festhalten des Erlebten und im Erinnern an Vergangenes setzt sich das Ich zusammen. Ein Ich-Gefühl, dekretiert der Onkologe am Ende des Buchs, könne sich nie aus dem physisch-biologischen Aspekt des Körpers ergeben, sondern nur aus dem Bewusstsein. Das heisst: Wir können nichts anderes tun als Geschichten erzählen.

Urs Faes: Halt auf Verlangen. Ein Fahrtenbuch. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2017. 199 S., Fr. 28.90.